Oder es wurde die "Aserbaidschan-Connection" beleuchtet – ein korruptes System gekaufter europäischer, teils auch deutscher Parlamentarier, die im Europaparlament oder im Bundestag im Sinne der "Familienautokratie" abgestimmt haben sollen. Tatsächlich "erbte" der heutige aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew die Präsidentschaft de facto von seinem 2003 gestorbenen Vater Haidar.
Künftig dürfte man mit dem Staatsnamen Aserbaidschan auch noch einen Krieg verbinden: den Krieg gegen etwa 120.000 armenische Männer, Frauen und Kinder, die fast ein Jahr lang von jeglicher Verbindung zur Außenwelt durch eine von Baku angeordnete Blockade abgeschnitten waren. Seit Dienstag griff die durch Öl- und Gasmilliarden aufgerüstete aserbaidschanische Armee die seit Jahrhunderten von Armeniern besiedelte Exklave Berg-Karabach an. Es war zu befürchten, dass die am Mittwoch vereinbarte Feuerpause die aserbaidschanische Offensive, die auf eine Eingliederung Berg-Karabachs zielt, damit nicht dauerhaft stoppen würde.
Am Mittwochabend erklärte Alijew in einer TV-Ansprache zwar, der jüngste Einsatz seiner Truppen sei beendet – denn die Souveränität Aserbaidschans über das Gebiet sei mittlerweile wiederhergestellt. Von armenischer Seite gab es allerdings zunächst keine Stellungnahme hierzu. Und Vorsicht scheint auch geboten, weil in der Vergangenheit schon mehrfach Verwirrung über das Kalkül beider Seiten herrschte.
Der Konflikt wirft viele Fragen auf – etwa die nach der Rolle Aserbaidschans, einem Land, mit dem die Europäische Union seit März 2021 in einem Abkommen über eine "umfassende und verstärkte Partnerschaft" verbunden ist. Genauso aber die nach der Rolle des Westens, dem "umfassenden und verstärkten" Partner des Herrschers in Baku. Und die Frage nach der Rolle Russlands, das 2020 nach dem vorherigen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien den unterlegenen Armeniern Sicherheitsgarantien gab. Ganz zu schweigen von der Türkei, die derzeit den größten Einfluss auf Alijew ausübt.
"Aserbaidschan ist ein autoritäres Regime, dessen Stabilität vor allem auf der Umverteilung der Einnahmen des Öl- und Gasgeschäfts fußt", sagt Marcel Röthig vom Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung im georgischen Tiflis. "Das bedeutet, dass Präsident Ilham Alijew und seine Familie das Land mehr oder weniger kontrollieren, seine Frau Mehriban Alijewa ist ja Vizepräsidentin. Sie sitzen so lange fest im Sattel, solange die Einnahmequellen sprudeln, was gleichzeitig bedeutet, dass das Land sehr fragil ist und aufgrund dieser einseitigen Abhängigkeit jederzeit in einen Strudel geraten kann."
Tatsächlich ist Aserbaidschan ein sehr schwieriger Partner. Im Ranking der Pressefreiheit, herausgegeben von Reporter ohne Grenzen, liegt das Land weltweit auf Rang 154 von 180 untersuchten Staaten – und damit zwischen Russland (155) und Belarus (153). Beim Demokratieindex der Uni Würzburg nimmt Aserbaidschan, klassifiziert als "harte Autokratie", Platz 152 ein – in diesem Fall sogar noch deutlich hinter Russland (140). In internationalen Vergleichserhebungen zu den Themen Menschenrechte oder Korruption sieht es oft nicht besser aus.
"Durch Großprojekte wie den Eurovision Song Contest oder Formel-1-Rennen versucht die Führung, das Land für alle sichtbar als eine Art ‚Dubai des Kaukasus‘ zu verkaufen, wo alle Menschen ein tolles Leben haben und wo großartige Projekte realisiert werden", erklärt Röthig. "Damit soll das oftmals negative Image, das jetzt durch die Bilder aus Berg-Karabach noch verstärkt wird, konterkariert werden."
Tatsächlich hat das Renommee Aserbaidschans im Westen gelitten. So wurden mit aserbaidschanischen Petromillionen mehrere deutsche Bundestags- und Europa-Abgeordnete geschmiert. Die Aserbaidschan-Affäre war ein Lehrstück in Sachen Korruption. Dabei ging es um Politiker der damaligen Regierungsparteien CDU und CSU, deren Geschäfte mit Aserbaidschan und die damit im Zusammenhang stehenden Vorwürfe von Lobbyismus und Bestechlichkeit.
Anders als im Fall Russlands vermutet Politologe Röthig jedoch, dass der Westen seinen großen Einfluss im Fall Aserbaidschans durchaus erfolgreich in die Waagschale werfen könnte, um den Kriegskurs des Regimes in Baku zu stoppen: "Ich glaube, die EU und die USA haben nicht unerhebliche Möglichkeiten, auf Aserbaidschan einzuwirken, weil diese eben beschriebene Abhängigkeit vom Öl- und Gasgeschäft das Land an empfindlicher Stelle treffen würde", sagt der Regionalexperte – und will nicht ausschließen, dass sich Diktator Alijew "möglicherweise verspekuliert hat, was die Reaktionen des Westen betrifft".
"Von zuvor 8,1 Milliarden Kubikmetern erhöhte Aserbaidschan durch den südlichen Gaskorridor im Jahr 2022 seine Exporte in die EU auf 11,4 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die bis 2027 auf 20 Milliarden Kubikmeter erhöht werden sollen", erklärte Mikheil Sarjveladze, Südkaukasusexperte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Angesichts eines jährlichen Gasbedarfs von über 410 Milliarden Kubikmetern ist Aserbaidschans Anteil daran zwar rasant wachsend – aber insgesamt noch marginal.
"Schon allein die Androhung von Sanktionen oder die sehr deutliche Ansage, dass man – was Sanktionen betrifft – bereit sei, bis zum Äußersten zu gehen, kann meiner Überzeugung nach in Aserbaidschan etwas bewirken", gibt sich Röthig überzeugt. Ihm zufolge gab es bei Aserbaidschans letztem "großen Waffengang" – dem 44-Tage-Krieg gegen Armenien, bei dem der Erzfeind im Herbst 2020 besiegt und ein großes Stück Berg-Karabachs bereits zurückeroberte wurde – keine harte Reaktion des Westens, "weil man offensichtlich dem Prinzip der territorialen Integrität Vorrang gab". Diesem steht das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Menschen in Berg-Karabach gegenüber.
Völkerrechtlich ist die Sache heikel, militärisch scheint sie bereits vor Beginn eines großen Krieges entschieden: "Das aserbaidschanische Militär ist im Prinzip eine Armee, die auch dank türkischer Unterstützung auf Nato-Stand operiert, zudem mit israelischer Technik ausgerüstet wurde", erläutert Röthig. "Dem gegenüber steht das armenische Militär, technisch auf einem Niveau der Sowjetunion der 70er-/80er-Jahre, auf verlorenem Posten, ist obendrein noch geschwächt vom letzten Krieg. Zudem greift es bislang in den Konflikt nicht ein. Die Menschen in Berg-Karabach, wo vermutlich in jedem Haus ein Gewehr steht, sind auf sich gestellt."
Alijews moderne Armee kämpft also gegen rund 110.000 Männer, Frauen und Kinder, die von der regulären armenischen Armee gemäß Waffenstillstandsvereinbarungen nicht geschützt werden. Und die obendrein durch eine einjährige Blockade – Aserbaidschan sperrte den einzigen Zugang über den Latschin-Korridor – geschwächt sind. In Berg-Karabach leben seit der Antike Armenier, und etliche Klöster und Kirchen stammen aus dem 13. Jahrhundert.
Der Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung geht fest davon aus, "dass Aserbaidschan nicht losgeschlagen hätte, ohne sich zumindest mit Russland abzustimmen. Das sind natürlich nur Indizien, keine harten Fakten", sagt Röthig. "Aber auch die russische Propaganda lässt eher solche Schlüsse zu: Da wurde nochmals kräftig gegen Armeniens Präsident Nikol Paschinjan nachgetreten, nach dem Motto: In diese Situation hat er sich selbst hineinbugsiert, jetzt ereilt ihn das erwartbare Schicksal."
Armenien hat – enttäuscht über ausbleibende politische und militärische Rückendeckung durch seinen traditionellen Verbündeten Russland – besonders unter dem Reformpräsidenten Paschinjan seine Fühler in Richtung Westen ausgestreckt. Röthig schätzt: "Möglicherweise erleben wir auch das Ende der russischen Ordnungsmacht im Südkaukasus."
Für eher unwahrscheinlich hält Röthig dagegen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die derzeitige Eskalation befürwortet: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Türkei in der jetzigen Situation auch angesichts der eigenen wirtschaftlichen Schwäche ein Interesse hat, diese kriegerische Auseinandersetzung auszuweiten – im Zweifel auch über Berg-Karabach hinaus. Die Türkei hat zuletzt viel unternommen, um den bilateralen Handelsverkehr mit Armenien wiederzubeleben – gerade auch mit Blick auf die Perspektiven im Osten der Türkei, wo Erdogans Kernwählerschaft lebt. Ankara hat ein generelles Interesse an freien Handelsverbindungen bis zum Kaspischen Meer, Bakus Eskalation wirkt da jetzt eher störend."
Viel ist über Aserbaidschans Ziel in diesem Konflikt spekuliert worden. Dass sich Armenien noch immer zurückhält und seine Schwestern und Brüder in Berg-Karabach nicht unterstützt, hat viel mit der eigenen militärischen Schwäche, der politischen Isolation und der Angst zu tun, dass es der Diktator in Baku auch auf ganz andere Gebiete abgesehen hat: die Schaffung eines Landkorridors nach Nachitschewan. Denn auch das aserbaidschanische Kernland ist durch Armenien von einer Exklave getrennt, in der Aserbaidschaner leben: eben in Nachitschewan. Dieses auch völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Gebiet ist nur über den Umweg der Türkei zu erreichen – oder über armenisches Territorium.
"Im Moment sieht alles danach aus, dass der Konflikt auf Berg-Karabach beschränkt bleibt, aber das eben mit aller Härte, auch wenn es momentan einen Waffenstillstand gibt", so Röthigs Ausblick. "Aserbaidschan hat militärisch alles in die Waagschale geworfen, inklusive Luftwaffe und Mehrfachraketenwerfer mit einer Reichweite von bis zu 200 Kilometern. Man wird miteinander verhandeln, weil die Lage der Armenier aussichtslos ist." An der Entschlossenheit der Führung in Baku sei wohl nicht zu zweifeln.
Der Experte schätzt: "Ich rechne damit, dass sich das Schicksal der Armenier in Berg-Karabach ein für alle Mal klären wird, dass die armenische Bevölkerung gezwungen sein wird, das Land zu verlassen." Wie eine Bestätigung dessen wurde am Mittwoch gemeldet, dass bereits jetzt 7000 Menschen "evakuiert" worden seien – ein positiv klingender, verharmlosender Begriff für Vertreibung.
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