"In diesem Sommer zeigte sich besonders deutlich, dass die Angriffe auf die Erinnerung die Arbeit der Gedenkstätten massiv behindern. Wöchentlich wurden zuletzt Hakenkreuz-Schmierereien in Buchenwald entdeckt. Das Thema verschwand dennoch für den Moment aus dem medialen Fokus. Der Grund: Am 7. Oktober überfiel die Terrororganisation Hamas die israelische Zivilbevölkerung", heißt es einleitend in der 24-seitigen Veröffentlichung.
"Die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden ist hoch", ordnet Nikolas Lelle die Lage zu Beginn der Präsentation ein. Deutschland verzeichne "einen immensen Anstieg von antisemitischen Vorfällen". In diesem Zusammenhang mahnt er an, die Rolle der extremen Rechten nicht aus den Augen zu verlieren: "Momentan wird die Rolle der extremen Rechten kaum diskutiert, weil der Blick – aus gutem Grund – auf die islamistischen und linken Gruppierungen gerichtet ist, die den Hamas-Terror verherrlichen und eine Grundlage für weitere antisemitische Vorfälle in Deutschland schaffen", so Lelle. "Im Windschatten der Terror-Verherrlichung setzt die extreme Rechte ihre Angriffe auf die Erinnerung fort."
Im aktuellen Bericht geht es demnach unter anderem um die rechtsextremistische Leugnung des Holocaust, um Angriffe auf Gedenkorte sowie um israelbezogenen Antisemitismus. Die Bilanz des Stiftungsleiters fällt "bitter" aus: "Antisemitismus hat einen Platz in Deutschland." Worte, denen Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, zustimmt. Nach Gesprächen mit Jüdinnen und Juden während der vergangenen Wochen könne er zwei Schlagworte nennen: "Unglaube" und "Angst".
"Nie wieder ist jetzt" lautet Kleins Appell, der daran erinnert, dass "es nicht das Jahr 1938" sei: "Das Gift des Antisemitismus gibt es zwar immer noch – aber im Jahr 2023 leben wir in einer gefestigten Demokratie mit einem Rechtsstaat, der uns schützt und verteidigt." Der Schutz jüdischer Einrichtungen sei eine der absoluten Prioritäten der Sicherheitsorgane, so Klein.
Klein beklagt zudem zu wenige Solidarisierungsbekundungen der deutschen Zivilgesellschaft und zieht einen Vergleich zu den zahlreichen Solidarisierungsbewegungen mit der Ukraine nach dem russischen Angriffskrieg im vergangenen Jahr. In diesem Zusammenhang bemängelte er einen "doppelten Standard" der Menschen, die Israel weniger mit Solidarität als mit Misstrauen begegnen.
Beate Küpper, Sozialpsychologin und Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen, hat an der "Mitte-Studie" der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mitgearbeitet. Sie benannte dies als "Melange aus Feigheit und klammheimlicher Unterstützung". Antisemitistische Einstellungen seien ihrer Einschätzung nach zudem häufiger bei Jüngeren als bei Älteren und bei muslimisch-migrantischen Menschen. Der Fokus in der aktuellen Lage auf muslimisch-migrantisierte Personen ist richtig", ordnet die Wissenschaftlerin ein. "Er darf aber nicht als Ablenkung dafür benutzt werden, vom Antisemitismus in der Mitte der Bevölkerung abzulenken."
Ihrer Einschätzung nach fehlt es in der breiten Bevölkerung nicht nur an Wissen über die Shoah für eine gelungene Aufarbeitung: "Wir haben eine Reflexions- und Gefühlslücke. Solange wir nicht fragen ‚Wem hat denn der hübsche Kerzenständer, den wir von der Oma geerbt haben, vorher gehört?‘ haben wir noch gar nicht angefangen aufzuarbeiten."
Wie kann der erstarkende Antisemitismus gestoppt werden? Felix Klein plädiert unter anderem für mehr und spezifischere Bildung. "Ich glaube, große Teile der Bevölkerung waren der Auffassung, dass wir immun sind gegen Antisemitismus", sagt er. "Wir haben zu wenig Angebote gemacht für Menschen mit Migrationshintergrund. Wir müssen viel mehr fragen: Was hat die Türkei zur NS-Zeit gemacht, wie sind Muslime betroffen?"
Aber wer kann diese Arbeit leisten? Deborah Hartmann, die Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, stellt zumindest in Frage, ob Gedenkstätten das leisten können. "Wie kann es sein, dass nach Jahrzehnten intensiver Erinnerung und Vermittlungsarbeit keine Klarheit über diese Begriffe und ihre Implikationen besteht?", fragt sie. "Ich frage mich, ob Gedenkstätten noch als Orte fungieren, an denen die Risse in Erinnerung gekittet werden können. In diesen Tagen sage ich Ihnen ganz ehrlich, dass ich mir unsicher bin."
Das Zivilgesellschaftliche Lagebild wird im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus veröffentlicht, die durch den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus gefördert werden.