Der Mindestlohn stieg zum Oktober 2022 von 10,45 Euro auf 12 Euro. Doch als die SPD dafür im Bundestagswahlkampf 2021 geworben hatte, ahnte niemand die folgenden Preissprünge vor allem infolge des russischen Kriegs in der Ukraine. Damit ist es noch nicht vorbei: Die Verbraucherpreise lagen im Februar wie im Januar um 8,7 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Nach einem Jahr Krieg mit seinen Folgen müsse die Inflation bei der Mindestlohnerhöhung Anfang 2024 stärker ausgeglichen werden, sagte die Chefin des Sozialverbands Deutschland, Michaela Engelmeier, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Dafür müsste der Mindestlohn nach unseren Berechnungen auf 14,13 Euro steigen." Denkbar sei, "dass der Mindestlohn schrittweise auf diesen Wert angehoben wird", so der Verband in einer Stellungnahme.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nennt keine Zahl - aber räumt ein: "Ja, die Inflation frisst die letzte Mindestlohnerhöhung weitgehend auf", wie DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell der Deutschen Presse-Agentur sagte. "Wir werden uns in der Mindestlohnkommission für einen kräftigen Ausgleich einsetzen." Vor allem Geringverdienerinnen und -verdiener litten unter Preissteigerungen. Körzell verweist zudem auf die EU: Ihre neue Mindestlohnrichtlinie schreibe eine entschiedene Berücksichtigung der Kaufkraft vor. Auch der SPD-Abgeordnete Sebastian Roloff sagte: "Wir müssen weiter diejenigen besonders entlasten, die von der Inflation am stärksten betroffen sind." Die Erhöhung des Mindestlohns wäre dafür effektiv, so der SPD-Linke zum "Handelsblatt". Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hatte in der Zeitung bereits gefordert, die Politik müsse über eine erneute Erhöhung des Mindestlohns nachdenken.
Bei Deutschlands Arbeitgebern schrillen da die Alarmglocken. "Die jüngst erhobenen Forderungen, die Anpassung in unrealistische Höhen zu schrauben, erweist sich als wiederholter Versuch eines Anschlags auf die Tarifautonomie", sagte der Hauptgeschäftsführer ihres Verbands BDA, Steffen Kampeter. "Die anstehende Anpassung des Mindestlohns darf keinesfalls erneut für politische Eingriffe missbraucht werden." Bereits vergangenes Jahr hatte die BDA vehement dagegen protestiert, dass der Gesetzgeber die Lohnuntergrenze anhob. Normalerweise verhandeln Vertreterinnen und Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie der Wissenschaft darüber - in der Mindestlohnkommission. Bis zu diesem Freitag hatten die maßgeblichen Verbände Zeit, dem Gremium ihre Stellungnahmen zu schicken. Das brachte die neue Debatte überhaupt erst ins Rollen.
Prompt meldete sich Kanzler Scholz zu Wort. "Es ist sehr gut, dass wir im Oktober letzten Jahres den Mindestlohn auf 12 Euro angehoben haben", sagte er nach einem Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft in München. "Klar verbunden mit dieser Aussage war das Versprechen, dass das eine einmalige durch Gesetz geschaffene Erhöhung ist." Und dass dann zum regelmäßigen Erhöhungsmechanismus zurückgekehrt werde - also zur Kommission. Auch Kampeter (BDA) und Körzell (DGB) treffen hier direkt aufeinander. Die Linke-Sozialexpertin Susanne Ferschl bemängelte, dass das Gremium "allein im stillen Kämmerlein" berate. Als zentraler Maßstab für die Beratungen hat das Gremium laut Gesetz die Entwicklung der Tariflöhne zu nehmen - also unter anderem auch wie viel etwa Verdi unter erhöhtem Warnstreik-Druck im öffentlichen Dienst herausholt. Aber die Kommission muss auch darauf achten, dass zu hohe Mindestlöhne nicht Beschäftigung gefährden - und zu niedrige den gebotenen Mindestschutz für die Beschäftigten nicht verfehlen.
Doch wie gut wirkt der Mindestlohn gegen die Inflation? Ganz ordentlich - bisher. So lässt sich eine neue Studie des Instituts WSI der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zusammenfassen. Nur rund jedes zweite EU-Land konnte demnach vergangenes Jahr mit höheren Mindestlöhnen die hohe Inflation ausgleichen - "vergleichsweise gut" auch Deutschland. Zwischen Anfang 2022 und Anfang 2023 hätten Menschen mit Mindestlohn inflationsbereinigt um 12,4 Prozent höhere Stundenlöhne bekommen. "Da die nächste Mindestlohnanpassung erst zum Januar 2024 vorgesehen ist, werde ein Teil des Zuwachses durch die weiterhin hohe Inflation in diesem Jahr aufgezehrt", so die Forscher aber. In Frankreich, den Niederlanden oder Belgien steige die Lohngrenze dagegen auch im Jahr 2023.
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