Allerdings gibt es in Russland ein besonderes Problem: Die Russen haben sich längst daran gewöhnt, von ihrem Staat belogen zu werden. Sie haben einen tief verwurzelten Zynismus entwickelt und suchen ständig nach alternativen Stimmen. Während des sowjetischen Krieges in Afghanistan 1979-89 war es beispielsweise die Weinrebe. Eine Mutter eines russischen Soldaten erzählte den Medien, wie ihr damals von den Behörden mitgeteilt worden sei, dass ihr Sohn bei einem Trainingsunfall ums Leben gekommen sei. Schließlich erfuhr sie von der Großmutter eines seiner Kameraden, dass er tatsächlich ums Leben gekommen war, als sein Lastwagen auf dem tückischen Salang Highway auf eine Mine prallte.
Jetzt jedoch wenden sich Russen, die Nachrichten über den Krieg wünschen – und viele würden fairerweise lieber unwissend bleiben, sowohl weil er deprimierend ist als auch weil sie lieber nicht vor schwierige moralische Entscheidungen gestellt werden möchten – an das Internet. Schon vor dem Krieg erhielt fast die Hälfte ihre Nachrichten über soziale Medien, seit der Invasion ist dieser Anteil gestiegen. Mittlerweile ist die Einschaltquote der Fernsehnachrichten zurückgegangen. Das informelle Online-Kontingent der sogenannten "Voenkory" oder "Militärkorrespondenten" – obwohl viele eher Kommentatoren als Reporter sind – hat sich als bedeutsam und unverwechselbar für die Gestaltung des Kriegsverständnisses erwiesen.
Der ehemalige Journalist Semyon Pegov, der beispielsweise hinter dem Telegram-Kanal WarGonzo steht, hat über 1,3 Millionen Abonnenten. Der kremlfreundliche ukrainische Blogger Juri Podolyaka, der nach der russischen Annexion auf die Krim zog, hat 2,7 Millionen Follower. Beide waren bei Putins Treffen. Tatsächlich wenden sich nicht nur Russen an die Voenkory, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Westliche Nachrichtenmedien und -organisationen greifen oft auf sie zurück, um Informationen zu erhalten, oder berichten sogar über ihre Meinungen als eigenständige Nachrichten. Damit sind sie nicht nur bei der Gestaltung des innenpolitischen Narrativs, sondern auch im umfassenderen Informationskrieg des Kremls mächtig geworden. Sogar Putin hat erkannt, dass er sich bei der Verbreitung seiner Botschaft nicht mehr an die offiziellen Medien halten kann.
Daher sein sorgfältig choreografiertes Treffen mit einer Gruppe, die sowohl aus offiziellen Kriegsberichterstattern als auch aus der Online-Voenkory handverlesen ist. Auffallend abwesend waren Anhänger von Jewgeni Prigoschin, der immer freimütigeren Figur hinter der Wagner-Söldnergruppe, oder die sogenannten "Turbopatrioten" wie Igor "Strelkow" Girkin – Nationalisten, die die Invasion unterstützten, deren ungeschickte und dilettantische Vorgehensweise jedoch lautstark kritisierten. Vielmehr handelte es sich dabei um "Kriegsblogger", die immer noch auf den guten Willen der Behörden angewiesen waren, Zugang zur Front zu erhalten, oder in der Hoffnung, ihr informelles Profil in offizielle Positionen ummünzen zu können. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie sich an das Drehbuch hielten und den Präsidenten nicht in Verlegenheit brachten, aber es war trotzdem ein unangenehmes Gespräch.
Die Bemühungen des 70-jährigen Putin, mit dem jungen Woenkory befreundet zu sein, scheiterten nicht nur, sondern erweckten auch den Eindruck, dass er sie brauchte und nicht umgekehrt. Es deutete auch auf eine Unsicherheit hin. Zeitweise schien Putin sich der Einzelheiten des Krieges, den er bekanntermaßen so genau zu verwalten versucht, nicht bewusst zu sein und manchmal war er bestrebt, sich davon zu distanzieren. Was auch immer schiefgehen konnte, lag natürlich immer in der Verantwortung eines anderen. Einfälle in die Region Belgorod? Die für die Grenzsicherung Verantwortlichen sollten daraus Lehren ziehen. Wird genug getan, um Nachwuchs im Militär zu fördern? Er hat dem Minister sicherlich gesagt, er solle dies beschleunigen, aber es gibt eine komplexe Bürokratie, die es zu umgehen gilt. Man könnte meinen, er suche Sündenböcke für den Fall, dass etwas schiefgeht.
Heutzutage hält ein unengagierter Putin nur noch selten Pressekonferenzen ab oder gibt auch nur Interviews. Dennoch ist das Spektakel, dass relativ junge Kriegsblogger mit Baseballkappen und T-Shirts mehr Zugang zu ihm bekommen als Reporter des Kreml-Pressepools, nicht ohne Vorankündigung vorübergegangen. Ein aufstrebender "Voenkor" sagt: "Dies ist ein Zeichen dafür, dass wir zu den Medien werden." Es ist auch ein Zeichen der Schwäche Putins und des Staates. Es gelingt ihnen nicht, die Erzählung zu prägen, und sie sind nicht in der Lage, die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer Behauptung zu begeistern, dass der Krieg eine existenzielle Herausforderung für das Überleben Russlands darstelle. Der Kreml kann die Voenkory nicht einmal kontrollieren, er hofft nur, sie zu kooptieren. Während der Krieg mit wenig wirklicher Hoffnung auf einen russischen Sieg und deutlichen Ängsten vor einer Niederlage weitergeht, ist Putin noch nicht bedroht – hat aber offensichtlich die Verbindung zu seinem Volk verloren.
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