Auch Kellnerinnen und Mitarbeiterinnen des Oktoberfests können sich im "Safe Space" Hilfe suchen. Denn trotz massiver Kameraüberwachung kommt es immer wieder zu Übergriffen. Manuela Soller, 32, vom Verein AMYNA ist seit dem vergangenen Jahr eine von drei hauptamtlichen Organisatorinnen des Projekts und zuständig für Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit.
Im letzten Jahr kamen 450 Hilfesuchende, so viele wie noch nie. "Was auffällig war: Am ersten Wochenende gab es mehrere Fälle mit Verdacht auf K.-o.-Tropfen. Allein vier am ersten Samstag. Das kommt eigentlich selten vor, vielleicht im gesamten Verlauf der Wiesn fünf-, sechsmal. Es ist schwer nachzuweisen, aber die Kolleginnen merken es, wenn eine Frau überhaupt nicht klar wird oder eine große Erinnerungslücke hat, die nicht nur durch Alkohol induziert sein kann. Wir ziehen dann die Ambulanz hinzu", sagte sie.
Sexualisierter Gewalt trete praktisch jeden Tag auf. Im letzten Jahr waren es 30 Frauen, die in irgendeiner Art und Weise sexualisierte Gewalt erlebt haben. Es gebe aber auch andere Situationen, in denen Frauen Hilfe brauchen: Wenn man die Freundesgruppe verloren hat und sich nicht mehr auskennt. Oder: Das Handy ist leer, die Tasche weg und man weiß nicht, wie man nach Hause oder ins Hotel kommen soll. Etwa die Hälfte der Frauen seien Touristinnen, die von der Größe des Fests überfordert sind.
Vergewaltigungen kommen zum Glück selten vor. In der Vergangenheit kamen erlebte Vergewaltigungen oder andere Übergriffe wieder hochkommen. Häufig wurden Frauen in irgendeiner Form begrapscht. Eine Rolle spiele auch Upskirting, unter den Rock zu filmen oder zu fotografieren. Das ist mittlerweile ein Strafbestand. Manche Frauen bitten auch darum, dass sie zur Polizei begleiten werden. Im vergangenen Jahr kümmerten sie sich an einzelnen Tagen um bis zu 68 Fälle, im Premierenjahr 2003 waren es dagegen insgesamt nur 28.
"Unsere Statistik zeigt eindeutig, dass es immer einen Anstieg an Fällen gab. Wir führen es aber nicht darauf zurück, dass es früher keine oder weniger Gewalt gab. Sie ist sichtbarer geworden, weil sich Mädchen und Frauen mehr trauen, darüber zu sprechen. Früher herrschte eher die Haltung vor: Das gehört halt dazu auf dem Oktoberfest – wenn du da hingehen willst, musst du es dir gefallen lassen, ist ja nur ein Spaß."
Gleichzeitig sei die Sensibilisierung gewachsen. Auf Festivals gibt es immer häufiger sogenannte Awareness-Teams. Gerade in den sozialen Medien gibt es viel Bewusstsein für das Thema, etwa, dass das Dirndl keine Einladung für Übergriffe ist. Zum anderen werde die Aktion immer bekannter durch Öffentlichkeitsarbeit und Social Media. Man bekommen zum Beispiel auch Anfragen von anderen Volksfesten, die ähnliche Institutionen einrichten wollen. Das Bewusstsein ist gestiegen, aber sicher nur in einem Teil der Bevölkerung.
"Man lässt die Frauen und Mädchen erst einmal ankommen, dass sie Vertrauen fassen können. Wir lassen sie erzählen oder stellen Fragen. Was braucht die Frau gerade und wie kann sie sicher nach Hause kommen? Wir begleiten sie beispielsweise auch zur U-Bahn oder können Taxis buchen und Gutscheine ausgeben, falls kein Geld für die Fahrt mehr da ist. Bei wirklich großen Notfällen, wo nicht klar ist, ob jemand am Zielort die Frau empfangen kann, oder sie etwas sehr Traumatisches erlebt hat, fahren wir sie auch mit dem Auto nach Hause. In Fällen von sexueller Gewalt versuchen wir zudem, Nachsorgeangebote zu vermitteln." Es gebe auf jeden Fall verschiedene Täterprofile: Täter, die spontane Gelegenheiten ausnutzen, aber auch solche, die bewusst und gezielt sich den Ort Oktoberfest aussuchen.
"Man sollte sich im Vorfeld informieren, wie die Wiesn funktioniert", sagt sie. Gerade Leute, die aus dem Ausland kommen, sind überfordert von diesen riesigen Bierzelten. Das Bier ist stärker als anderswo, das wissen auch nicht alle. Genauso: Wenn man aus einem Zelt rausgeht, ist es nicht sicher, dass man wieder reinkommt. Deshalb sei es wichtig, immer alle Sachen bei sich zu führen, wenig Wertsachen dabeizuhaben, dazu ein gut aufgeladenes Handy, um Freunde erreichen zu können. "Das sind im ersten Moment banale Sachen, aber oft ist es so: Wenn ein Mädchen oder eine Frau alleine und hilflos ist, kann eigentlich erst die gefährliche Situation entstehen. Dass jemand das ausnutzt und sagt, komm doch mit mir mit."
Im Fokus steht besonders der Nachhauseweg. Man sollte sich im Vorfeld überlegen, wie man später nach Hause kommt. Gerade abends würde sie Frauen empfehlen, zu zweit unterwegs zu sein. Auch bei den Mitarbeiterinnen achten sie darauf und schauen, wie sie nach ihrem Dienst sicher nach Hause kommen. Auf der anderen Seite schwingt bei solchen Hinweisen eine gewisse Täter-Opfer-Umkehr mit.
Es ist eine schwierige Gratwanderung, weil sie eigentlich nicht wollen, dass sich Mädchen und Frauen vorbereiten müssen, sondern Spaß haben können. Gerade in sozialen Medien empören sich deshalb manche: Warum braucht es Tipps für Frauen? Kann man nicht bei den Männern ansetzen? Kein Tipp der Welt kann vor sexueller Gewalt schützen, weil immer die Täter schuld sind. Das sei eine wichtige Botschaft der Aktion. Oft werde es aber umgedreht, nach dem Motto: Was hat die Frau denn erwartet, wenn sie sich eine Maß ausgeben lässt, wenn sie so flirtet? Das ist etwas, wogegen wir kämpfen.
Es gebe so etwas wie eine sexualisierte Grundatmosphäre. Es gab zuletzt eine große Diskussion um Darstellungen von Frauen auf Fahrgeschäften, die sexistisch waren, teilweise auch rassistisch. Da wurde ein gewisses Bild von Frauen vermittelt, die leicht bekleidet sind, eine sexy Ausstrahlung haben. Die Frau wird als Objekt dargestellt. Letzte Woche wurden einige Fotos für Kanäle gemacht, unter anderem ein Motiv mit Lebkuchenherzen. Auch da gebe es viele Aufschriften, wo man sagen könne, das geht in diese Richtung. So schaffe man eine sexualisierte Atmosphäre.
Die drei Münchner Vereine AMYNA e. V., IMMA e. V. und die Beratungsstelle Frauen*notruf München riefen die Aktion 2003 ins Leben. Ziel war es, die Stadtgesellschaft für die Problematik von sexueller Gewalt auf dem Oktoberfest zu sensibilisieren, Zivilcourage zu stärken und sexuelle Übergriffe nicht mehr zu bagatellisieren. Insgesamt sind rund 70 Frauen für das Projekt im Einsatz, pro Abend kümmern sich 14 Mitarbeiterinnen um die Anfragen, etwa Psychologinnen oder spezialisierte Pädagoginnen. Dazu kommen Ehrenamtliche, beispielsweise Studentinnen mit entsprechender Fachrichtung oder Mitarbeiterinnen aus dem Frauenhaus. Insgesamt 3068 Wiesn-Besucherinnen konnte das Team in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Not- und Krisensituationen beraten. Rund zwei Drittel der Gesamtkosten werden von der Stadt München getragen, weitere Unterstützer sind das Landratsamt München, die Münchner Wiesn-Stiftung und zahlreiche Spender und Spenderinnen.
Ihre Initiative gibt es seit nunmehr 20 Jahren. Eine Ihrer Kolleginnen hat in einem Interview von einem älteren Politiker erzählt, der sagte, er hätte damals gegen diesen "Schmarrn" gestimmt und würde es wieder tun, weil es ein schlechtes Licht auf die Wiesn werfe.
Es gebe Verantwortliche, die dem Thema sehr aufgeschlossen gegenüber sind, oft sind es Politikerinnen. Bei den Parteien gebe es Unterschiede: Manche wollen das Thema nicht so groß behandeln, für andere ist es sehr wichtig. Es hat sich auf jeden Fall entwickelt in den vergangenen 20 Jahren. Anfangs gab es viele Widerstände gegen das Projekt; überhaupt zu sagen, dass Übergriffe dieses Fest überschatten. Heute ist der "Safe Space" ein fester Bestandteil, mit dem sich viele gerne schmücken. Das hat sich schon verändert.
dp/fa