Xi nahm an einem Dinner teil. Er ließ sich den höchsten Orden des Landes Südafrika umhängen. Und er trat zu einem Gruppenfoto auf die Bühne. Bei allen Terminen erschien der 70-Jährige aus Peking aufgeräumt und unauffällig. Doch ausgerechnet beim politisch wichtigsten seiner geplanten Auftritte gab es eine Überraschung. Xi sagte in letzter Minute seine weltweit mit Spannung erwartete Rede bei dem Gipfel ab. Abweichend von der Tagesordnung bat er seinen Handelsminister Wang Wentao, den Text vorzulesen. Der Staatschef selbst blieb vorübergehend unsichtbar.
Westliche China-Kenner stutzten: Was ist los mit Xi? Normalerweise meidet Peking solche Patzer bei stark durchchoreografierten Events wie diesem wie der Teufel das Weihwasser. Nach China selbst drang die Nachricht vom seltsamen Geschehen beim Gipfel in Johannesburg gar nicht durch. Hua Chunying, Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, verbreitete die Falschnachricht, Xi habe in Johannesburg "eine Rede gehalten". Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung, die mit eigenen Augen etwas anderes gesehen haben, staunten über die Eiseskälte des chinesischen Regimes.
Langjährige China-Beobachter dagegen sind nicht überrascht: Unter dem perfektionistischen Diktator Xi sei die regierungsamtliche Schaffung ganz eigener Wahrheiten fürs Volk längst Routine geworden. Warum Chinas Staatschef in Johannesburg seine Rede nicht selbst gehalten hat, werde man nie erfahren, prophezeit Bill Bishop, ein weltweit profilierter "China-Watcher". Bishop sagte, bereits in den Wochen zuvor, ebenfalls im August, habe sich Xi für längere Zeit "auf seltsame Art" aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Da das Regime zu solchen Dingen stets eisern schweige, könne man unterm Strich nur eins mit Sicherheit sagen: "Jetzt werden Gerüchte die Runde machen."
Das Getuschel ist inzwischen in der Tat in vollem Gang, vor allem in Medien und sozialen Netzwerken in Asien. In den USA schafften es die Spekulationen um Xi aber auch bereits in die Fernsehnachrichten großer Mainstreamsender wie CBS. Neuen Schub bekam die Gerüchtsberichterstattung durch die Absage von Xi beim G20-Gipfel an diesem Wochenende in Indien: Dem Treffen in Neu-Delhi blieb Chinas Staatschef von vornherein fern. Als Peking die Absage offiziell verkündete, deuteten dies die meisten Kommentierenden und Staatskanzleien im Westen zunächst spontan als gezieltes politisches Signal: China, hieß es, wolle damit Indien eins auswischen.
Tatsächlich gibt es zwischen Indien und China eine Fülle von immer neuen Streitigkeiten, etwa über Grenzverläufe im Himalaya. Doch warum sollten diese im Prinzip schon seit sechs Jahrzehnten andauernden Reibereien plötzlich die Absage eines G20-Gipfels rechtfertigen? Seit die G20-Runde im November 2008 zum ersten Mal zusammen kam, hat noch nie ein chinesischer Staatschef seine Teilnahme daran abgesagt. Zum ersten G20-Gipfel, der auf Einladung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush in Washington stattfand, erschien Chinas Präsident Hu Jintao. Seit 2013 heißt der Teilnehmer aus China Xi Jingping.
Welcher Vorteil sollte für Xi daran liegen, auf einmal keine Präsenz mehr zu zeigen? In Neu-Delhi sah die Welt, wie US-Präsident Joe Biden mit Indiens Premier Narendra Modi demonstrativ zusammenrückte. Genüsslich nutzte Biden auch die Gelegenheit zu einer "photo opportunity" mit Xis Brics-Partnern Brasilien und Südafrika. Über den abwesenden Xi sagte Biden: "Es wäre nett, ihn hier zu haben, aber so oder so läuft der Gipfel gut." Frei übersetzt lautete Bidens Botschaft: Wenn wir nicht mit Xi reden können, dann reden wir eben über ihn.
Auf welche Weise die Abwesenheit Xis bei G20 den Interessen Chinas dienlich sei könnte, liegt im Dunkeln. James Palmer vom US-Magazin "Foreign Policy" will deshalb ausdrücklich auch den Gedanken zulassen, dass gar keine politische Absicht hinter Chinas Absage steckt: Vielleicht, schrieb Palmer dieser Tage, sei Xi "einfach krank". Dies zuzugeben, sei dem Diktator allerdings unmöglich – zumal er gerade erst Chinas politisches System mühsam in seinem Sinn gesäubert und sich eine lebenslange Amtszeit verschafft habe.
Weltweit deuten China-Beobachter jetzt erneut auf Gerüchte, die schon im vorigen Jahr die Runde machten. Damals hieß es in indischen Medien, darunter der "Times of India", Xi leide an einem Aneurysma im Hirn, der lebensbedrohlichen Ausbuchtung einer Schlagader. Laut "Hindustan Times" soll dies auch der Grund für einen Krankenhausaufenthalt Xis Ende des Jahres 2021 gewesen sein. Die beiden Zeitungen bezogen sich ihrerseits auf die indische Nachrichtenagentur ANI.
Ein Hirnaneurysma gilt als Zeitbombe im Kopf: Die Gefäßausbuchtung kann zwar dauerhaft unschädlich bleiben – aber auch plötzlich platzen. In diesem Fall sind die Überlebenschancen schlecht. Der Patient lebt also mit einem hohen Risiko. Riskant sind allerdings auch Operationen mit dem Ziel, ein Aneurysma zu beseitigen: Ein Teil der Patienten stirbt oder erleidet dauerhafte Behinderungen. Xi will sich nach den Berichten in den indischen Zeitungen nicht operieren lassen. Er setze stattdessen auf Methoden der sogenannten traditionellen chinesischen Medizin – in der Hoffnung, dass es kleiner wird und ihm nicht schadet. Wird ein Aneurysma größer, kann es neurologische Störungen auslösen, die unter anderem das Sprach-, Seh- oder Hörvermögen beeinträchtigen können.
Schwingt bei der Verbreitung dieser Gerüchte indische Missgunst mit? Ist es gar Desinformation? Die Quellenlage blieb stets obskur. Dennoch scheinen die Gerüchte um Xi mittlerweile unzählige Menschen zu bewegen. Mal heißt es in sozialen Netzwerken, das Aneurysma beeinträchtige mittlerweile Xis Sprechvermögen, mal wird ein Zusammenhang hergestellt zu einer schlurfenden Gehweise des Diktators. Jüngst trendete die Theorie, Xi höre schlecht. In China selbst, sagen Kenner, gehe die Internetzensur längst dazwischen und blocke schon entsprechende Suchanfragen.
Freie, transparente Gesellschaften sind an dieser Stelle gelassener – und robuster. George Bush senior konnte sich einst bei einem Bankett übergeben, ohne dass ihm das als US-Präsident politisch schadete. Kanzler Olaf Scholz läuft lässig mit einer Augenklappe herum. In China dagegen, Xi weiß das, können tatsächliche oder vermeintliche physische Schwächen einer einzelnen Figur an der Spitze das gesamte politische System erzittern lassen. Ob die Gerüchte zutreffen oder nicht: Der Diktator blickt jetzt auf die Kehrseite der Einmannherrschaft, die zu etablieren ihm so wichtig war.
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