Davon spricht die auch auf nationaler Ebene sehr einflussreiche Präsidentin der Hauptstadtregion Madrid, die konservative Hoffnungsträgerin Isabel Díaz Ayuso. Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo, der wie Ayuso der Volkspartei PP angehört, unkte in der Debatte vor der Abstimmung über die Kandidatur von Sánchez, der Rechtsstaat, die Demokratie und die Einheit des Landes seien gefährdet. In die gleiche Kerbe schlug das renommierte Blatt "El Mundo". Es schrieb, Sánchez betreibe einen "Staatsstreich in Zeitlupe", weil er einen "Pakt mit Kriminellen" geschlossen habe.
Harter Tobak. Ist der gerechtfertigt? Was hat Sánchez gemacht? Er hat den beiden im Parlament vertretenen separatistischen Parteien Kataloniens, der linken ERC und der liberalen Junts, neben einem Schuldenerlass von 15 Milliarden Euro und weiteren Zugeständnissen auch eine Amnestie für alle nach Unabhängigkeit strebenden "Catalanistas" zugesichert, die zwischen 2012 und 2023 mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Das sind nach dem diese Woche im Parlament eingebrachten Gesetzentwurf mehr als 200 - darunter auch Carles Puigdemont, der als katalanischer Präsident den gescheiterten Abspaltungsversuch vom Herbst 2017 anführte. Seitdem lebt er - nach filmreifer Nacht-und-Nebel-Flucht - in Belgien im Exil. Zwischendurch wurde er auch mal kurzzeitig in Schleswig-Holstein festgenommen.
Bundeskanzler Olaf Scholz freute sich über den Erfolg von Sánchez. "¡Felicidades! (Glückwunsch)", schrieb der Sozialdemokrat auf der Plattform X. "Gut, dass wir weiter Seite an Seite arbeiten können. Denn auf viele Herausforderungen in der Welt schauen wir aus einem sehr ähnlichen Blickwinkel", fügte der Kanzler hinzu.
Dass Puigdemont nach Inkrafttreten des Gesetzes als Triumphator nach Spanien zurückkehren könnte, empfinden die Konservativen, die Katalonien seinerzeit unter Zwangsverwaltung stellten, als riesige Demütigung. Sánchez versprach in der Parlamentsdebatte vier weitere Jahre des "Fortschritts und des friedlichen Zusammenlebens". Fortschritt vielleicht, aber Frieden kann Sánchez den circa 48 Millionen Bürgern nicht garantieren. Im Gegenteil. Spanien steht vor turbulenten Zeiten.
Schon für Samstag hat die PP zu einem neuen Protest gegen Amnestie und die linke Regierung in Madrid aufgerufen. "Man wird uns nicht zum Schweigen bringen", rief Feijóo zornig. Sein erklärtes Ziel: dass die Regierung aufgibt und es zu Neuwahlen kommt.
Erst am vorigen Wochenende hatte die PP Hunderttausende im ganzen Land mobilisiert. Nicht nur die (relativ) gemäßigte Opposition geht auf die Barrikaden. Schon seit 13 Nächten in Folge protestieren Tausende Anhänger der rechtspopulistischen Vox vor den Quartieren der Sozialisten - teils mit Gewalt, Hitlergruß und Jubelrufen für die Diktatur von Francisco Franco (1939-1975). In der Nacht auf Donnerstag gab es wieder viele Verletzte und Festnahmen.
"Die Faschisten und Frauenfeinde protestieren nicht gegen die Amnestie, sondern weil sie sich an den Urnen nicht durchgesetzt haben", rief PSOE-Sprecher Patxi López unter dem Jubel seiner Parteikollegen. Sánchez warf Feijóo vor, sich "dem reaktionären Club von (Donald) Trump, (Marine) Le Pen, (Viktor) Orban und (Vox-Chef) Santiago Abascal" angeschlossen zu haben.
Aber nicht nur auf der Straße wird die Opposition Sánchez das Leben schwer machen, sondern auch in den Gerichten und Parlamenten. "Vor allem, wenn man bedenkt, dass die PP inzwischen elf der 17 Autonomen Gemeinschaften regiert und im Senat die absolute Mehrheit hat. Das wird die Verabschiedung von Gesetzen, jede Vereinbarung mit den Regionen, das Regieren des Landes überhaupt erschweren", schrieb die Zeitung "El Periódico". Die Polarisierung werde zunehmen. Zumal Sánchez wohl nur mit dem Linksbündnis Sumar koalieren und somit nur 152 von 350 Unterhaus-Stimmen haben wird. Die anderen Partner aller Couleur werden sich nur mit Mühe bei der Stange halten lassen.
Aber Sánchez hat den Ruf eines politischen Stehaufmännchens, als gewiefter Verhandler und Taktiker, der größte Widerstände innerhalb und außerhalb der eigenen Partei zu überwinden wusste, immer auf dem politischen Hochseil ohne Netz und doppelten Boden. Zuletzt war er nach den Regionalwahlen von Mai dieses Jahres politisch totgesagt worden, als seine PSOE und die gesamte Linke eine Pleite erlitten. Nur einen Tag später zog er die eigentlich fürs Jahresende programmierten Wahlen vor - und hatte mit dem Schachzug Erfolg.
Die PSOE belegte bei der Neuwahl im Juli zwar nur den zweiten Platz hinter der PP. Aber die Kandidatur von Feijóo wurde Ende September vom Unterhaus abgelehnt - auch wegen der Zusammenarbeit der PP mit den Rechtspopulisten von Vox. Dass aber Sánchez anschließend vor Ablauf der Frist am 27. November auch die "Quadratur des Kreises" (Zeitung "La Vanguardia") schaffen und durch den Schulterschluss mit den Separatisten neue Wahlen verhindern würde, hatten nur die Wenigsten für möglich gehalten.