Am Wochenende hatten ukrainische Kräfte das umkämpfte Awdijiwka aufgeben müssen. Auf der taktischen Ebene gebe es mit Ausnahme des Raum Awdijiwka einen relativ unveränderten Verlauf der über 1000 Kilometer Frontlinie, sagte Freuding. Räumlich begrenzt würden intensivste Gefechte geführt. "Russland ist entlang dieser Frontlinie weit überwiegend in der Initiative", stellte er fest. Freuding sagte auch: "Wir sind der Überzeugung, dass die Ukraine gewinnen kann. Dem gilt unsere ganze Kraft, unsere Anstrengungen und die unserer Partner."
Der Offizier, der den Planungsstab im Verteidigungsministerium leitet, hatte vor zwei Wochen Generalinspekteur Carsten Breuer in die Ukraine begleitet. Sie hatten in Kiew den neuen Oberkommandierenden Olexander Syrskyj zu Gesprächen über weitere Waffenhilfen getroffen. Syrskyj habe über die Lage an der Front informiert und für Hilfen gedankt, hatte der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow mitgeteilt.
Aus Awdijiwka hätten sich die ukrainischen Soldaten auf vorbereitete Positionen fünf bis zehn Kilometer westlich geordnet und taktisch geschickt zurückgezogen, sagte Freuding. Und: "Wir sehen generell, dass die Ukraine in den letzten Wochen und Monaten sehr intensiv in Stellungsbau investiert hat, um Verteidigungsstellungen in günstigen Geländeabschnitten auszubauen.
Beide Seiten zielten mit Angriffen in die Tiefe des gegnerischen Raumes. Russland feuere auf Energie- und Rüstungsinfrastruktur, gehe aber auch gezielt gegen Bevölkerungszentren vor. "Die ukrainischen Angriffe in die Tiefe zielen vor allem auf Führungseinrichtungen, logistische Einrichtungen und Flugplätze und besondere Einzelziele wie die Schwarzmeerflotte", sagte er. Seine taktische Beurteilung der Lage von Nord nach Süd: Leichte Fortschritte zugunsten der russischen Streitkräfte im Raum Donezk. Im Raum Saporischschja ist es im Wesentlichen ausgeglichen. Und es gelingt den ukrainischen Streitkräften, sich weiterhin am linken Dnipro-Ufer in der Oblast Cherson festzusetzen, aber ohne einen militärisch relevanten Brückenkopf zu bilden oder ausbauen zu können.
Die Erwartung oder auch Hoffnung, dass die Ukraine mithilfe westlicher Waffenhilfe im vergangenen Jahr durch die russischen Stellungen brechen könnte, hat sich nicht erfüllt. Mehrere Gründe dafür könne man klar analysieren, sagte Freuding. Die Ukrainer seien nicht in der Lage gewesen, die nötige Überlegenheit von 3:1 bis 5:1 zumindest räumlich begrenzt zu erreichen und sich dann durchzusetzen.
Zudem fehle es ihnen als angreifender Truppe an Flugabwehrfähigkeiten. "Die ukrainischen Streitkräfte waren quasi schutzlos den Bedrohungen aus der Luft ausgesetzt. Warum? Weil die Fähigkeiten zur Flugabwehr und zur Luftverteidigung mit Masse auf die Bevölkerungszentren und die kritische Infrastruktur konzentriert sind", sagte er. Dazu komme der Ausbau der russischen Linien mit einer die Vorstellung übersteigende Verminung. Die Ukrainer sprechen nach diesen Angaben von etwa 20 Millionen Minen, ausgebracht mit einer Tiefe von mehreren Kilometern, die bei fehlender Flugabwehr und Luftverteidigung durch die Ukraine per Hand geräumt werden müssten.
Die aus Deutschland gelieferten Waffen tragen nach den Worten Freudings entscheidend dazu bei, dass die ukrainischen Streitkräfte im Verteidigungskampf bestehen können. So werde die Panzerhaubitze 2000 als das präziseste Artilleriegeschütz bezeichnet. Aus dem Kampfpanzer Leopard 2 könnten Besatzungen selbst nach schweren Treffern mit großkalibriger Munition oder mit Drohnen unversehrt aussteigen.
Freuding sagte weiter: "Dass die Ukrainer eine stärkere Unterstützung brauchen, weil der Verbrauch an Munition, an Waffensystemen sehr hoch ist, ist klar." Es liefen Anstrengungen, die Unterstützung zu steigern. Der Offizier sagte: "Für den, der sich verteidigt, der in einem existenziellen Überlebenskampf steht gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner mit einer funktionierenden Rüstungsindustrie hintendran, mit scheinbar endlosen Personalreserven, für den ist es natürlich nie genug." Weiter stehe Deutschland selbst immer wieder vor Abwägungsentscheidungen: "Inwieweit greifen wir mit Unterstützungsleistungen in unsere eigene Verteidigungsfähigkeit ein?"