Erstmals seit einem Jahrzehnt sind israelische Panzer wieder im Gazastreifen im Einsatz. Aktuelle Videos der Armee zeigen gepanzerte Fahrzeuge, die im Norden des Küstenstreifens über sandigen Boden rollen. Daneben laufen Soldaten in Schutzausrüstung mit großen Rucksäcken und Sturmgewehren. Nach dreiwöchigen massiven Luftangriffen in dem dicht besiedelten Gebiet spricht Regierungschef Benjamin Netanjahu nun mit Ausweitung der Bodeneinsätze von der "zweiten Phase" des Kriegs. Ziel sei es, die militärischen Fähigkeiten der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas im Gazastreifen zu zerstören, ihre Herrschaft zu beenden sowie die mindestens 230 Geiseln zurück nach Hause zu bringen.
Nach dem schlimmsten Massaker in der Geschichte Israels, das die Hamas am 7. Oktober im Grenzgebiet angerichtet hatte, sind die Soldaten nach Angaben des Militärs "entschlossen und hochmotiviert". Generalstabschef Herzi Halevi sagte, man werde "niemals die Kinder vergessen, die ermordet wurden". Man nehme die Gräuelbilder "mit auf das Schlachtfeld".
Nach Ansicht eines israelischen Sicherheitsexperten steht der Armee ein langer, intensiver Konflikt bevor. "Es wird kein Blitzkrieg und kein Sechstagekrieg sein", sagt Amos Jadlin, ehemaliger Chef des israelischen Militärgeheimdienstes. Die Armee werde "Meter für Meter" vorangehen, um zivile Opfer zu verringern und "so viel wie möglich Hamas-Terroristen zu töten", sagte er. Die meisten Gegner würden dabei in Tunnel oder die "unterirdische Stadt" der Hamas fliehen, erwartet Jadlin, ehemaliger Leiter des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv. "Die Herausforderung wird es sein, die Tunnel zu zerstören oder sie herauszubekommen, mithilfe der einen oder anderen Technik."
Die größte Einschränkung seien dabei die Geiseln, sagt Jadlin. Angesichts der hohen Opferzahlen unter der palästinensischen Bevölkerung wächst jedoch auch der Druck auf Israel, einer Waffenruhe zuzustimmen. Jadlin denkt, dass auch der Hamas-Chef Jihia al-Sinwar unter Druck seiner eigenen Leute steht, "die sagen, wir sind zu weit gegangen, es ist an der Zeit zu stoppen". Sie drängten zu einem Gefangenenaustausch mit Israel, "sonst sieht Gaza bald aus wie Dresden (nach dem Zweiten Weltkrieg)". Sinwar behauptete am Samstag, die Palästinenserorganisation sei bereit, ein Abkommen über einen Gefangenenaustausch sofort abzuschließen.
Die Familien der israelischen Geiseln, die Netanjahu am Samstag zum ersten Mal getroffen hat, fordern ebenfalls einen sofortigen Deal zur Freilassung ihrer Liebsten. Ob Israels Führung zustimmen wird, Tausende palästinensische Häftlinge für die 230 Geiseln freizulassen, bleibt abzuwarten.
Die israelische Bodenoffensive könnte auch unter den Soldaten hohe Opfer fordern. Diese Angst bereitet einer Kinderärztin aus Tel Aviv schlaflose Nächte. Ihr 20-jähriger Sohn, ein Kampfsoldat in einer Bodentruppen-Einheit, ist am Rande des Gazastreifens stationiert und wartet dort auf den Marschbefehl. Wie andere Mütter, die mit ihr in einem großen Krankenhaus arbeiten, könne sie vor Sorge kaum funktionieren, erzählt die 54-Jährige. "Es gibt eine große Gefahr, dass viele israelische Soldaten sterben werden."
Sie sei wütend darüber, "dass die Welt uns nicht hilft", sagt die Medizinprofessorin, die auch an der Universität unterrichtet. Wäre dies anders, "müssten wir unsere Kinder nicht mit einer Bodenoffensive gefährden", meint sie. "Wenn die Welt mehr Druck auf die Hamas und arabische Länder ausüben würde, dann würden dort auch weniger Kinder sterben." Auch die ständigen Raketenangriffe aus dem Gazastreifen verstärken das Gefühl der existenziellen Angst bei der Tochter eines Holocaust-Überlebenden aus Rumänien. "Was bleibt uns anderes übrig, als uns vor diesen Mördern zu verteidigen? Es ist eine Terrororganisation."
Die Armee hat in Israel eine größere Bedeutung als in den meisten anderen Ländern. Es gilt eine allgemeine Wehrpflicht, Männer müssen gut zweieinhalb Jahre und Frauen zwei Jahre dienen. In den letzten Jahren hatte das Militär aber mit einer kontinuierlich sinkenden Motivation von Rekruten zu kämpfen. 2022 wollten laut einer internen Untersuchung nur 66 Prozent in Kampfeinheiten dienen, während es 2020 noch 73 Prozent gewesen waren. Bei Frauen waren es letztes Jahr nur noch 48 Prozent, verglichen mit 60 Prozent im Jahre 2018.
Ein wachsender Teil der Bevölkerung ist außerdem befreit vom Militärdienst, darunter arabische Bürger und Ultraorthodoxe. Am Streit um ein Gesetz, das schrittweise mehr strengreligiöse Männer zum Wehrdienst verpflichten soll, war Ende 2018 die Regierungskoalition zerbrochen. Die rechtsreligiöse Regierung von Benjamin Netanjahu strebte vor dem Massaker noch die Verabschiedung eines neuen Gesetzesentwurfs an, der die Befreiung strengreligiöser Männer verankern soll.
Trotz all dieser Probleme sieht der Israel-Experte Stephan Vopel von der Bertelsmann Stiftung die Armee "nicht nur als ein Verteidigungsinstrument, sondern auch ein zentrales Element der nationalen Identität und des sozialen Zusammenhalts". Von allen staatlichen Institutionen genieße sie das höchste Maß an Vertrauen innerhalb der israelischen Gesellschaft. "Und sie erfüllt die in den Augen der Bevölkerung wichtigste Aufgabe überhaupt: Die physische Existenz des Staates Israel sicherzustellen."
Zwar gelte die Tatsache, dass es nicht gelang, den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober mit mehr als 1400 Toten zu verhindern, auch als Versagen der Armee. "Doch obwohl Kritik an der Armee geübt wird, zeigt die hohe Bereitschaft der Reservisten, sich zu melden, das tiefe Vertrauen und den Glauben an ihre Rolle zum Schutz des Landes."
Ungeachtet vieler offener Fragen sei die Entschlossenheit, "die Hamas zu zerschlagen und dafür auch eigen Verluste in Kauf zu nehmen, stark und wird auch von der politischen Mitte und Linken mitgetragen", so Vopel. Israels Entschlossenheit, sich gegen Bedrohungen zu verteidigen, sei tief in seiner Gründungsgeschichte und aktuellen Realität verwurzelt. "Ohne die Bereitschaft, Opfer auch des eigenen Lebens zu bringen, wäre der Staat nicht entstanden und würde der Staat Israel nicht dauerhaft überleben", sagt Vopel.