Sicherheitskräfte hinderten sie demnach daran. Zu den Kundgebungen gegen Israel, die Berichten zufolge auch von Hamas-Mitgliedern organisiert werden, kamen Tausende. Die Strategie der PA basiere derzeit darauf, "öffentliche Proteste als Ventil für palästinensische Beschwerden zuzulassen", schreibt Neomie Neumann von der US-Denkfabrik Washington Institute. Die Behörde wolle zugleich verhindern, dass die Demonstrationen gewalttätig werden, um keinen Kontrollverlust zu riskieren. Denn davon könne die konkurrierende Hamas profitieren.
Präsident Mahmud Abbas leitet die PA sowie die säkulare Fatah-Fraktion innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Die Fatah und die Hamas sind die beiden größten Palästinenserorganisationen - und erbitterte Rivalen. Die bislang letzte Präsidentenwahl fand 2005 statt, die letzte Parlamentswahl 2006. Nach Umfragen sind viele Palästinenser sehr unzufrieden mit dem 87-jährigen Abbas. Eine große Mehrheit will seinen Rücktritt. Die Autonomiebehörde ist immer wieder mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert.
Im Rahmen eines blutigen Bruderkriegs vertrieb die islamistische Hamas die Fatah 2007 aus dem Gazastreifen. Seither regiert Abbas de facto nur im Westjordanland. Doch sein Einfluss dort ist nur noch gering. Nichts schwäche die PA so sehr wie ihre Unfähigkeit, die Palästinenser vor der Siedlergewalt zu schützen, betont der palästinensische Analyst Dschihad Harb. Und seit dem 7. Oktober kommt es im Westjordanland vermehrt zu Gewalt israelischer Siedler. Menschenrechtlern zufolge töteten sie seitdem mindestens sieben Palästinenser. Hunderte wurden demnach in dem Zeitraum vertrieben.
Am 12. Oktober sollen Siedler und Soldaten der Zeitung "Haaretz" zufolge drei Palästinenser stundenlang brutal geschlagen, auf sie uriniert und die Männer bis auf die Unterwäsche ausgezogen und dann fotografiert haben. Zwei Täter drückten demnach ihre brennenden Zigaretten auf den Opfern aus. Die israelische Armee teilte mit, sie untersuche den Vorfall.
Schuld an der zunehmenden Siedlergewalt seien auch einige rechtsextreme Politiker in der israelischen Regierung, die diese verteidigten, schreibt der Analyst Alex Lederman im US-Magazin "Time". Soldaten im Westjordanland seien oftmals selbst Siedler und Täter müssten nur selten mit rechtlichen Konsequenzen rechnen.
Trotz der großen Unzufriedenheit mit der als korrupt geltenden Autonomiebehörde sehe er derzeit aber keine Anzeichen für einen Umsturz oder eine Übernahme der Geschicke im Westjordanland durch die Hamas, sagen Analysten. Umfragen zeigen nach Angaben der Wissenschaftlerin Neumann vom Washington Institute zwar, "dass die lokale Bevölkerung große Vorbehalte gegenüber der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Fatah-Partei hat, Hamas jedoch auch nicht als Lösung sieht." Lederman geht aber davon aus, dass die Zustimmungswerte im Westjordanland für die Hamas seit den Terrorangriffen auf Israel gestiegen sind.
Die PA steht auch nach einer Ankündigung Israels, vorübergehend millionenschwere Steuerzahlungen einzustellen, unter Druck. Als Grund nannte Israels rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich die angebliche Unterstützung des Hamas-Terrorüberfalls durch Vertreter der Fatah-Partei. Israels Verteidigungsminister Joav Galant kritisierte die Entscheidung: Die PA brauche die Gelder auch zur Terrorismusprävention.
Seit dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel nahm das israelische Militär eigenen Angaben nach mehr als 1000 Terrorverdächtige im Westjordanland fest, darunter viele Hamas-Mitglieder. Im selben Zeitraum hätten palästinensische Terrorvorfälle dort erheblich zugenommen, schreibt Neumann für das Washington Institute. Auch die Hamas bemühe sich verstärkt darum, Angriffe im Westjordanland zu steuern.
Die palästinensische Öffentlichkeit im Westjordanland sei derzeit dennoch nicht geneigt, sich an Gewalt zu beteiligen, resümiert Wissenschaftlerin Neumann. Die Menschen glaubten nicht an ihre Wirksamkeit. "Wenn sie zu Gewalt greifen, ist der Preis hoch." Seit Jahresbeginn kamen im Westjordanland nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums mehr als 300 Palästinenser bei israelischen Militäreinsätzen, Konfrontationen oder eigenen Anschlägen ums Leben. Es ist laut Menschenrechtsorganisationen die höchste Zahl seit mehr als 15 Jahren.
Bislang gebe es eine relative Zurückhaltung der Bevölkerung in dem Palästinensergebiet, betont Neumann. Im Falle dramatisch steigender Todeszahlen im Gazastreifen oder bei einem unerwarteten militärischen Versagen der Israelis dort könne sich dies jedoch ändern. Vorerst sei es der Hamas in ihrem Krieg gegen Israel nicht gelungen, eine zweite Front im Westjordanland zu eröffnen.
Um die Stabilität im Westjordanland zu wahren, müsse Israels Regierung "gegen palästinensische und jüdische Gewalt gleichermaßen" vorgehen, betont der Analyst Lederman im "Time"-Magazin. Die Siedlergewalt bedrohe auch die Integrität der israelischen Demokratie und die Sicherheit des Landes. Die Stationierung einer großen Anzahl an Soldaten im Westjordanland zum Schutz der Siedler habe zudem zu einer Vernachlässigung der Sicherheit an anderen Grenzen geführt. Über die Grenze zum Gazastreifen waren am 7. Oktober Tausende Terroristen eingedrungen, um Massaker in Israel zu verüben.