
Schlein erinnerte die Regierungschefin gestern auch an die Petition für den Mindestlohn, der von einer halben Million Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden ist. Auch zahlreiche prominente Arbeitgeber hatten sich in den letzten Wochen für das Anliegen eines Mindestlohns starkgemacht. Regierungschefin Giorgia Meloni lehnte dies dagegen von Beginn an ab: Der bessere Weg, würdige Löhne zu garantieren, liege bei der Förderung von Tarifverträgen.
Die Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn für alle Arbeitnehmer von 9 Euro brutto pro Stunde war vom PD, der Fünf-Sterne-Bewegung und einigen weiteren, kleineren Oppositionsparteien in Form eines parlamentarischen Gesetzesentwurfs eingebracht worden. Vom Mindestlohn hätte etwa jeder vierte Beschäftigte profitiert: In Italien gibt es rund 3,6 Millionen Arbeitnehmer, die zum Teil deutlich weniger als 9 Euro brutto pro Stunde verdienen.
Die mickrigen Löhne gelten generell als Problem für die italienische Wirtschaft; sie sind mitverantwortlich für die im europäischen Vergleich niedrige Beschäftigung im Land. Wegen der hohen Inflation hat sich die Situation zuletzt noch verschärft: Seit der Pandemie haben die italienischen Arbeitnehmer knapp 8 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt.
Was die Opposition ebenfalls empörte: Im Vorfeld der parlamentarischen Diskussion hat die Regierung den Gesetzesvorschlag der Opposition kurzerhand abgeändert und als eigenes Gesetz präsentiert, in welchem der Mindestlohn durch eine Förderung von Kollektivverträgen ersetzt wird: Auf diese Weise konnten es die Rechtsparteien vermeiden, in der Abgeordnetenkammer gegen den populären Mindestlohn Nein zu stimmen.
Dieses Vorgehen ist zwar erlaubt, aber unschön: "Die Regierung entzieht dem Parlament das Recht, über einen Vorschlag der Opposition zu diskutieren und abzustimmen", erklärte Schlein. Diese Vorgehen sei ein Vorgeschmack auf die Verfassungsreform, mit der die Rechtskoalition die Stellung des Regierungschefs stärken will: "Alle Macht der Ministerpräsidentin – aber Demokratie ist etwas anderes", betonte die PD-Chefin.
Die Opposition hat den Gesetzesvorschlag für einen Mindestlohn noch vor der Debatte in der Abgeordnetenkammer zurückgezogen; der Chef der Fünf-Sterne-Protestbewegung und Ex-Premier Giuseppe Conte hat ihn im Abgeordnetenhaus publikumswirksam zerrissen: "Dass fast vier Millionen Arbeiter, die auf einen anständigeren Lohn gehofft haben, enttäuscht werden, wird nicht in unserem Namen passieren", betonte Conte. Neben Italien kennen nur noch vier EU-Länder keinen Mindestlohn: Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden. Auch in der Schweiz gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn.