Die Bahn kann ihre eigenen Ansprüche an die Pünktlichkeit schon seit Jahren nicht mehr erfüllen. 2022 kamen laut einer Studie gerade mal 63 Prozent aller Züge pünktlich am Zielbahnhof an. Oder anders gesagt: Jeder dritte Zug ist verspätet. Damit belegt Deutschland im Vergleich der mitteleuropäischen Länder den letzten Platz.
Nun könnte man meinen, dass sich die Bahnreisenden längst an diesen Missstand gewöhnt hätten. Doch gepaart mit Zeitdruck, Stress oder bloß schlechter Laune strapazieren die zunehmenden Bahnprobleme anscheinend das Nervenkostüm vieler Kundinnen und Kunden immer wieder aufs äußerste. Und das bekommen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Zügen und auf den Bahnsteigkanten laut der Deutschen Bahn immer öfter zu spüren.
Nach Angaben der Deutschen Bahn gab es im Jahr 2022 insgesamt 3138 körperliche Übergriffe auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Anstieg im Vorjahresvergleich: 21 Prozent. Noch stärker stieg die Zahl der verbalen Entgleisungen, inklusive Bedrohungen und Spuck-Attacken. 2022 wurden laut Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG insgesamt 14.000 solcher Vorfälle gemeldet. Die meisten Übergriffe gab es im Regionalverkehr.
Zwar muss bei den Zahlen für 2022 ein Sondereffekt berücksichtigt werden, weil als häufigste Streitursache die damals noch geltende Maskenpflicht angegeben wurde und die Züge wegen des Starts des begehrten 9-Euro Tickets zugleich häufig überfüllt waren, was für zusätzlichen Ärger sorgte.
Doch auch unabhängig davon bewegen sich die Zahlen der Übergriffe auf hohem Niveau. Hans-Hilmar Rischke, Leiter der DB-Konzernsicherheit: "Die Hemmschwelle sinkt. Das spüren wir vor allem in den Ballungsgebieten." Und Besserung ist vorerst kaum in Sicht. Ganz im Gegenteil, denn in den nächsten Jahrzehnten soll mehr denn je am deutschen Schienennetz gewerkelt werden. Ziel ist ein massiver Ausbau der Zugverbindungen.
Die Zukunftsvision: Fernzüge sollen ab 2070 im Stundentakt von den Bahnhöfen abfahren, auf Hauptstrecken sogar alle 30 Minuten. Das ist zwar noch lange hin. Doch schon bis 2030 soll die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppelt werden. Für die Bahn-Beschäftigten heißt das voraussichtlich: noch mehr Baustellen, noch mehr Verspätungen, noch mehr verärgerte Kundinnen und Kunden.
Um die hohe Zahl der Konflikte zu reduzieren, startet die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG gemeinsam mit dem Verkehrsministerium nun eine große Werbekampagne. Motto: #mehrAchtung. Plakate in Zügen und Bahnhöfen rufen in den nächsten zwei Jahren zu Verständnis, Respekt und "Bahnhöflichkeit" gegenüber den Mitarbeitenden auf.
Das Vorhaben soll die bereits laufenden Kampagnen des Gewerkschaftsbundes ("Vergiss nie, hier arbeitet einen Mensch") und die EVG-Aktion "sicher unterwegs" ergänzen. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) erhofft sich dadurch ein "Signal an die Gesellschaft" und mehr Schutz für die Betroffenen. "Es macht etwas mit Menschen, am Arbeitsplatz so angegangen zu werden. Offensichtlich fehlt bei manchen das Gespür, dass sie es bei Bahnmitarbeiterinnen und Bahnmitarbeitern mit Menschen zu tun haben", sagt er.
Doch gutes Zureden allein ist der Gewerkschaft EVG nicht genug. Sie fordert darüber hinaus den Einsatz von Bodycams, also kleinen Kameras an den Uniformen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Anders als zum Beispiel bei der Polizei sollen die Aufnahmen erst in kritischen Konfliktsituationen eingeschaltet werden.
Ein Test auf der Schwarzwaldbahn lief laut Hans-Hilmar Rischke, Leiter der DB-Konzernsicherheit, bereits zufriedenstellend: "Erste Konfliktsituationen konnten allein mit dem Hinweis des Mitarbeiters, er werde die Kamera jetzt einschalten, deeskaliert werden." Verkehrsminister Wissing zeigte sich zuletzt offen für den Vorstoß: "Jeder ist auf Mobilität angewiesen und jeder ist darauf angewiesen, dass diejenigen, die sie täglich organisieren, das auch in Zukunft gerne und motiviert tun."
Weiterer Schwerpunkt: die Videoüberwachung. Die Bahn will die Zahl der Kameras in ihren Bahnhöfen bis 2024 von aktuell 9000 auf 11.000 erhöhen. Darüber hinaus sollen die Beschäftigen in "Deeskalationstrainings" besser auf Konflikte vorbereitet werden.