"Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben", witzelte Mark Twain in einem weltberühmt gewordenen Bonmot. Das war anno 1897, nach einer Phase, in der der amerikanische Schriftsteller und Satiriker lange nicht erreichbar war und es ihm offenbar schlecht ging. Voreilig hatten New Yorker Zeitungen bereits Nachrufe auf ihn veröffentlicht.
In diesen Tagen sah sich die russische Regierung zu ähnlichen Klarstellungen veranlasst, bezogen auf keinen Geringeren als Wladimir Putin persönlich. Dmitri Peskow, der Sprecher des Staatspräsidenten, wies nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters Spekulationen zurück, wonach sein Chef tot ist und das Regime nur noch mit Putins Doppelgängern arbeitet. "Mit ihm ist alles in Ordnung", sagte Peskow. Man solle doch bitte nicht auf Fake News hereinfallen. Auf eine Nachfrage von Journalisten nach möglichen Körperdoubles des Präsidenten lachte der Sprecher und bestritt, dass Putin welche habe. In der russischen Regierung bewirkten wiederkehrende Berichte dieser Art "nichts als ein Lächeln".
Doch so lustig, wie Peskow es darstellt, ist die Sache nicht. In Russland jedenfalls haben die offiziellen Dementis aus dem Kreml die Gerüchte erst recht beflügelt: "Putins Tod" wurde inzwischen zu einem heimlichen Topthema. Das US-Magazin "Newsweek" berichtet, schon im Oktober hätten 417.000 Russen bei der populären russischen Suchmaschine Yandex Begriffe eingegeben wie "toter Putin", "sterbender Putin" und "Putin gestorben". "Wir sehen hier ein deutliches Zeichen wachsenden Misstrauens in der russischen Gesellschaft", sagt Mark Galeotti. Der britische Historiker und Buchautor ("Die kürzeste Geschichte Russlands") gehört zu den einflussreichsten Moskau-Kennern weltweit. In seinem Podcast "In Moscow’s Shadows" liefert er mehrmals im Monat Einblicke in seine aktuellen Forschungen.
Woher kommt die neue Nervosität in Russland? Hat der Prigoschin-Putsch vom Juni den Russen einen Knacks versetzt? Parallel zu Gerüchten über Putins Tod kursieren Erzählungen, wonach Prigoschin sich auf clevere Art zurückgezogen hat und entgegen allen offiziellen Darstellungen noch immer das Leben genießt, derzeit auf der zu Venezuela gehörenden karibischen Insel Margarita. Wer sich einlässt auf das Hin und Her in russischen Chat-Kanälen, endet im Zustand kompletter Verwirrung. Wirklich unbestreitbar ist in diesen Tagen nur eins: In Russland wissen viele Menschen nicht mehr, was sie noch glauben sollen.
Galeotti spricht von einer "irritierenden Addition immer neuer Spekulationen", die sich für das Regime insgesamt ungünstig auswirke. "Zwei Jahrzehnte lang hat Putin auf Personenkult plus Intransparenz gesetzt", sagt Galeotti. "Genau diese Kombination fällt ihm jetzt auf den Fuß." Russland schrecke jedoch davor zurück, jetzt eine noch strengere Internetzensur einzuführen: "Das würde viele veranlassen zu sagen: Seht her, die haben gerade wirklich etwas zu verbergen."
Mutmaßungen anzustellen über den obersten Machthaber, hat in Moskau Tradition. Oft kündete eine brodelnde russische Gerüchteküche von historischen Umwälzungen. Denn immer wieder hing, ob in zaristischer oder kommunistischer Zeit, alles am Wohlergehen einer einzelnen Person. Der Tod Stalins im Jahr 1953 etwa ließ gefühlt eine ganze Welt zusammenbrechen. "Wir hatten völlig vergessen, dass Stalin ein Mensch war", notierte der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg. "Er hatte sich in einen allmächtigen und geheimnisvollen Gott verwandelt."
Allmächtig und geheimnisvoll: So trat auch Putin seit Amtsantritt im Jahr 1999 seinen Russen gegenüber. Das Image des kalten, alles und alle kontrollierenden gelernten Geheimdienstoffiziers genügte ihm nicht. Putin prahlte mit stählerner Fitness. Mal ritt er mit entblößtem Oberkörper durch die Berge Sibiriens, mal schoss er Großwild oder fuhr zum Beweis seines Muts in einer Taucherglocke zum Meeresgrund.
In makabrem Gegensatz dazu stehen Schilderungen, die seit geraumer Zeit im Kurznachrichtenkanal Telegram die Runde machen. Dort wird er mal als Krebspatient beschrieben, mal als Opfer von Schlaganfällen oder Schüttellähmung, impotent und inkontinent zugleich. Der Kreml schien dies alles als eine Art Grundrauschen aus missgünstigen Quellen hinzunehmen.
Ein bizarrer Höhepunkt aber war am 23. Oktober erreicht, als der anonyme, in Russland aber sehr bekannte Account General SVR im Kurznachrichtendienst Telegram den Tod des Präsidenten meldete. Putin, hieß es da, sei nach einem Herzstillstand "um 20.42 Uhr Moskauer Zeit" in seiner Residenz in Valdai gestorben. Im Augenblick dürften die Ärzte den Raum mit Putins Leiche nicht verlassen: "Sie werden von Mitarbeitern des präsidialen Sicherheitsdienstes festgehalten." Die Fäden liefen zusammen bei Nikolai Patruschew, dem Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation.
General SVR ist seither stur bei seiner Darstellung vom Ableben des Staatschefs geblieben, ungeachtet der Tatsache, dass Putin in den folgenden Tagen wie gewohnt bei diversen Fernsehauftritten zu sehen war. Des Rätsels Lösung liegt nach Deutung der Blogger, zu denen frühere Geheimdienstmitarbeiter zählen sollen, in einem gigantischen Betrugsmanöver: Patruschew dirigiere inzwischen einen Doppelgänger Putins.
Dies alles liefe hinaus auf eine innenpolitische wie weltpolitische Ungeheuerlichkeit. Es wäre ein verschleierter Putsch in einem der mächtigsten Staaten der Erde. Doch auch wenn die Geschichte abstrus wirkt wie ein heillos überkonstruierter Politthriller, wird sie nicht von allen Russen sofort vom Tisch gewischt. Denn die Erzählung von den Doppelgängern zumindest hat sich seit Jahren in den Hirnen vieler Menschen längst als eine Art Wahrheit eingenistet – und lässt nun auch Zweifel zu an Putins Sein oder Nichtsein.
Nicht nur in Russland ist die Frage, wie der wahre vom falschen Putin zu unterscheiden ist, längst zu einer Art Sport geworden. Genüsslich breitete das Londoner Boulevardblatt "Sun" dieser Tage aus, wie japanische Forscher, unterstützt von Künstlicher Intelligenz, auf "diverse Wladimirs" gestoßen seien: Geholfen hätten dabei moderne Gesichtserkennungssysteme, ein digitaler Stimmenvergleich und die Analyse von Körperbewegungen.
Auffallend, sagen Russland-Kenner, seien oft auch diverse Unterschiede im Verhalten. Einen verblüffend bürgernahen Putin erlebte man in diesem Jahr in der Ukraine, im russisch besetzten Mariupol. Da schüttelte der Gast aus Moskau fröhlich Hände und gab einem Mädchen gar einen spontanen Kuss auf die Stirn. Augenzeugen und Reporter sagten nach der Inszenierung des Putin-Auftritts spontan: "Das war er nicht." Kremlbesucher erinnern sich, dass sie bei Begegnungen mit dem echten Diktator sechs Meter Abstand halten mussten.
Die Ukraine beobachtet das fortdauernde Verwirrspiel um den "toten Putin" und seine Doppelgänger mit einer Mischung aus Misstrauen und Amüsement. Ein Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes mutmaßte am 2. November in der "Kyiv Post", die Moskauer Führung habe die Todesmeldungen möglicherweise selbst gestreut. Das Regime wolle auf diese Art die Reaktionen der Russen testen, von normalen Leuten bis hinauf in elitäre Kreise: "Auf diese Weise lernt das Imperium, wie es die Dinge weiter steuern kann."
Registrierung und Gründung einer maltesischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Ähnlich sieht es der Kiewer Regierungsberater und Sicherheits Experte Anton Gerashchenko. Entspannt empfahl er seinen mehr als 525.000 Followern auf X (vormals Twitter), die Meldungen vom Ableben Putins, auch wenn sie nicht stimmen, einfach mal als etwas Erbauliches in schwerer Zeit zu betrachten: "Gute Nachrichten sind ja im Moment Mangelware." Zudem bat Gerashchenko um Einsendung von Witzen rund um das Thema. Ein Finne schrieb spontan: "Putin ist nicht tot, er riecht nur schlecht."
Die jetzt laufenden Internetdebatten über "Putins Tod" werden offenbar nicht zuletzt auch durch Einwirkungen aus der Ukraine und aus dem Westen beeinflusst. Dabei spielt psychologische Kriegsführung wohl ebenso eine Rolle wie schlichtes Wunschdenken. Bereits im Mai dieses Jahres hatte Gerashchenko seinen Landsleuten in einem Interview die Möglichkeit beschrieben, dass Russlands Krieg auch auf ganz andere Weise enden könne als durch einen militärischen Sieg der Ukraine: durch Putins Tod. Der allerdings könnte de facto noch lange auf sich warten lassen.
Immerhin stapelt sich in Kiew inzwischen schon mal einiges an Witzen, darunter der hier: Außenminister Sergej Lawrow ruft Putins Doppelgänger zusammen und informiert sie über einen Bombenanschlag auf den Präsidenten. "Er hat überlebt, das ist die gute Nachricht", sagt Lawrow mit ernster Miene. "Aber ich habe für euch auch eine schlechte Nachricht: Er hat einen Arm und ein Auge verloren."