Um die Verluste aufzufüllen, greift Russland offenbar auch zu völkerrechtswidrigen Mitteln: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti schickt Putin nun ukrainische Kriegsgefangene an die Front. "Wir haben das ukrainische Volk nicht verraten, sondern befreien das ukrainische Volk aus der Geiselhaft des kriminellen Regimes in Kiew", zitiert das russische Propagandaportal einen angeblichen ukrainischen Soldaten, der nun auf russischer Seite kämpfe.
"Kriegsgefangene an die Front zu schicken ist kein neues Phänomen", betont András Rácz, Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) am Rande eines Besuch in der Ukraine. "Selbst die sowjetische Armee hat diese Methode im Zweiten Weltkrieg gehabt, und auch im Krieg gegen die Ukraine haben wir das bereits gesehen", sagte er. Im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine habe zuerst die Wagner-Gruppe mit der Rekrutierung von Kriegsgefangenen und anderen Sträflingen begonnen und sei damit so erfolgreich gewesen, dass das russische Verteidigungsministerium diese Strategie übernommen habe.
"Die Gefangenen werden für die gefährlichen Aufgaben eingesetzt, wie die Entschärfung von Minen", sagt Rácz. Es sei vor allem eine Frage der Fähigkeiten der Kriegsgefangenen und weniger des politischen Willens, wie sie eingesetzt würden. "Die einzelnen Gefangenen unterscheiden sich sehr hinsichtlich ihres Alters, ihres psychischen Zustands, ihrer Gesundheit und ihrer militärischen Erfahrung", erklärt er und fügt hinzu: "Sie sind nur Kanonenfutter."
Der Militärexperte hält es für wahrscheinlich, dass die Kriegsgefangenen nicht nur zur Entschärfung von Minen eingesetzt werden. Angesichts der hohen Verluste bei den Angriffen könnten sie auch an Offensivoperationen teilnehmen. "Wenn sie zu Kämpfen eingesetzt werden, dann in der ersten Reihe", erläutert Rácz. "Sie sollen als Selbstmordkommando in Richtung der ukrainischen Stellungen stürmen, damit die Ukraine das Feuer eröffnet und so ihre Position verrät." Die Kriegsgefangenen würden demnach als Köder geopfert werden, damit die russischen Berufssoldaten anschließend mit der Artillerie präzise die ukrainischen Stellungen unter Beschuss nehmen können.
Dem russischen Bericht zufolge hätten die ukrainischen Kriegsgefangenen einen Treueeid auf Russland geschworen und bildeten nun ein russisches Bataillon. Diesen Eid müssen auch gewöhnliche Berufssoldaten leisten. Das Bataillon operiert laut russischen Staatsmedien in der Region Donezk. Dies deutet laut der täglichen Analyse des US-Thinktanks Institut for the Study of War (ISW) darauf hin, dass die ukrainischen Kriegsgefangenen im Grenzgebiet der Oblaste Donezk und Saporischschja eingesetzt werden.
Dass die ukrainischen Gefangenen rebellieren und die russischen Befehlshaber womöglich außer Gefecht setzen, glaubt Militärexperte Rácz nicht. "Es ist unwahrscheinlich, dass sich die ukrainischen Kriegsgefangenen an der Front gegen die Russen auflehnen. Sie sind unterernährt und unzureichend ausgebildet und ausgestattet." Eine Meuterei sei ein schöner Wunsch, aber völlig unrealistisch.
Bereits vor einigen Tagen hatten russische Staatsmedien berichtet, dass russische Streitkräfte bis zu 70 ukrainische Kriegsgefangene aus verschiedenen russischen Strafkolonien "rekrutiert" hätten. Die Genfer Konvention über Kriegsgefangene verbietet den Kampfeinsatz der Gefangenen auf gegnerischer Seite. Zudem häufen sich Berichte über Folter und weitere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in russischen Straflagern.