Experten stuften das Urteil am Folgetag als äußerst bedeutsam für den Staat Israel ein, der immer wieder um ein Gleichgewicht zwischen dem jüdischen und dem demokratischen Charakter des Landes kämpft. Bei der nun kassierten Gesetzesänderung ging es im Kern darum, dass dem Obersten Gericht die Möglichkeit genommen wurde, gegen "unangemessene" Entscheidungen der Regierung, des Ministerpräsidenten oder einzelner Minister vorzugehen.
Der ehemalige oberste Richter und Generalstaatsanwalt Menachem Masus sagte dem israelischen Armeesender, es handele sich vermutlich um "das wichtigste Urteil des Obersten Gerichts seit der Staatsgründung" 1948. "Es ist vor allem wichtig wegen der grundsätzlichen Entscheidung, dass das Parlament nicht machen kann, was es will, auch wenn es Grundgesetze verabschiedet". Grundgesetze können in Israel mit einer einfachen Mehrheit geändert werden.
Eine Mehrheit von 12 der 15 Richter entschied in dem Urteil ebenfalls, dass das Gericht die Autorität besitze, Grundgesetze zu überprüfen "und in jenen seltenen und extremen Fällen zu intervenieren, in denen das Parlament seine Befugnisse überschreitet".
Die Verfassungsrechtlerin Professor Suzie Navot hält diese Entscheidung für noch viel wichtiger als das Urteil zu der konkreten Gesetzesänderung. "Dies ist ein Thema, das uns auch in Zukunft begleiten wird", erklärte sie dem israelischen Rundfunk. Das Gericht habe mit seinem Urteil der Regierung "ihre uneingeschränkte Macht genommen". Damit schütze es auch die Bürger, weil es im israelischen System keine weiteren Kontrollmechanismen gebe. "Es gibt bei uns keinen Präsidenten, der ein Veto gegen ein Gesetz einlegen kann. Das Parlament hat auch keine zwei Kammern." Das Parlament, die Knesset, sei de facto vielmehr "der legislative Arm der Regierung", weil die Koalition das Abgeordnetenhaus dominieren könne.
Die israelische Bewegung für Qualitätsregierung, die eine Petition gegen die Gesetzesänderung eingereicht hatte, feierte das Urteil als "riesigen öffentlichen Sieg derer, die für Demokratie kämpfen". Kritiker hatten stets gewarnt, die Änderung könne Korruption und die willkürliche Besetzung wichtiger Posten fördern.
Vertreter der Netanjahu-Regierung kritisierten das Urteil dagegen und vor allem den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Netanjahus rechtskonservative Likud-Partei nannte es bedauerlich, ein derart polarisierendes Urteil "ausgerechnet zu einer Zeit zu fällen, in der israelische Soldaten von der Rechten und der Linken kämpfen und ihr Leben im Krieg gefährden".
Die von der Regierung seit ihrer Vereidigung vor einem Jahr massiv vorangetriebene Justizreform hatte einen tiefen Spalt in die israelische Gesellschaft getrieben. Über Monate gingen immer wieder Hunderttausende Menschen auf die Straße, um dagegen zu protestieren. Sie stuften das Vorgehen der Regierung als akute Gefahr für Israels Demokratie ein. Die Gesetzesänderungen im Rahmen der Reform könnten Netanjahu laut Experten auch in einem gegen ihn laufenden Korruptionsprozess in die Hände spielen. Die Regierung argumentierte dagegen, das Gericht sei in Israel zu mächtig und mische sich in politische Entscheidungen ein.
Viele sahen den monatelangen Streit als einen Grund dafür, dass Israel am 7. Oktober derart von dem verheerenden Terroranschlag der islamistischen Hamas überrascht werden konnte. Bis zum 7. Oktober hatte es immer wieder eindringliche Warnungen gegeben, Israels Feinde könnten seine Schwäche ausnutzen.
Das Urteil gilt zudem als Rückschlag für den ohnehin angeschlagenen Netanjahu. In Umfragen hat er seit dem 7. Oktober massiv an Popularität verloren. Viele nehmen ihm übel, dass er keine persönliche Verantwortung dafür übernommen hat, dass das Hamas-Massaker geschehen konnte.
Sollte Netanjahus Regierung das Urteil nicht akzeptieren, droht dem Land eine Staatskrise. Noch ist unklar, wie die Koalition handeln wird, vor allem, wenn der Krieg einmal vorbei sein wird. Der Justizminister Jariv Levin, die treibende Kraft hinter der Reform, ließ sich in seiner ersten Reaktion zumindest ein Hintertürchen offen. "Das Urteil, das in keiner westlichen Demokratie seinesgleichen hat, wird uns nicht entmutigen", sagte Levin. "Während der Kampf an verschiedenen Fronten andauert, werden wir weiter mit Zurückhaltung und Verantwortung handeln."
Ein ranghohes Regierungsmitglied sagte dagegen der Zeitung "Jediot Achronot": "Die Reform ist am 7. Oktober gestorben und wird auch nicht wieder zum Leben erwachen."