Die Pandemie ist im vierten Corona-Herbst wirklich vorbei. Wir sind immun. Die magische Schutzformel: dreimal Kontakt mit dem Virus – per Impfung oder Infektion. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits im Frühjahr den Gesundheitsnotstand aufgehoben. Die große Welle in diesem Herbst ist denn auch tatsächlich bisher ausgeblieben. Arztpraxen und Krankenhäuser haben viel zu tun, müssen sich aber nicht auf Bergamo-Szenarien einstellen. Oktoberfest, Weihnachtsmarkt, Fußball – das geht alles uneingeschränkt.
Doch weg ist das Virus nicht. Im Verborgenen grassiert Corona trotzdem weiter. Das Robert Koch-Institut beobachtet, dass das Virus seit August wieder stärker kursiert, die Dunkelziffer ist hoch. Es ist aber nicht nur der Erreger selbst. Auch der Schock der vergangenen Jahre wirkt noch nach.
Einer posttraumatischen Belastungsstörung gleiche der Zustand der Gesellschaft momentan, sagt etwa der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann. Nach der Pandemie hätte es eigentlich eine längere Erholungsphase gebraucht. Aber es folgten direkt neue Weltkonflikte: Inflation, Kriege, starke Fluchtbewegungen. "Dadurch flammt das Ohnmachtsgefühl der Corona-Krise wieder auf."
Das sind keine guten Ausgangsbedigungen, um sich kompetent in der Endemie einzurichten. Hinzu kommt: "Wenn eine Krankheit endemisch wird, kann sie immer noch Leid und Tod verursachen", erklärte einmal der WHO-Koordinator Mike Ryan. Ärztinnen und Ärzte erwarten nun jede Wintersaison eine "Tripledemie", wie es die US-Infektiologin Brenda L. Tesini neulich formulierte. Das heißt: Drei Atemwegserreger sind der neue Standard. Grippevirus, RS-Virus – und jetzt auch für immer Corona.
Denn wir werden uns alle immer wieder anstecken. Einige Menschen werden trotz Immunschutz richtig krank, manche schwer. Gefährdet sind weiterhin vor allem Ältere über 60, Menschen in Pflegeheimen und Vorerkrankte. Das Krankheitsbild Long Covid, wenngleich unzureichend erforscht, steht unter Verdacht, wahrscheinlicher Menschen zu treffen, die sich mehrfach infizieren. Drei fiese Erreger statt zwei lassen im Winter mehr Menschen krankheitsbedingt ausfallen. Das belastet die Berufswelt, Familien – und auch das sowieso schon angeschlagene Gesundheitssystem.
Die gute Nachricht: Corona ist berechenbarer geworden. Das Virus mutiert zwar weiter, entwickelt immer wieder neue Varianten, um trotz wachsendem Immunschutz unter uns Menschen zu überleben. Alle kursierenden Subtypen sind bislang aber Omikron-Verwandte. Es gibt bislang keine Hinweise, dass diese tödlicher und krankmachender sein könnten. Solange Omikron bleibt, bleiben Fachleute optimistisch. Entdeckt das Virus eine Lücke in der Immunität, werden die Karten aber womöglich neu gemischt.
Wie entspannt die Lage bleibt, hängt aber nicht nur vom Virus ab. Unser Verhalten ist entscheidend – auch wenn die Pandemie vorbei ist. Das meint konkret: ob man bei erhöhtem Krankheitsrisiko beispielsweise den Impfschutz verbessert – wie es die Ständige Impfkommission jährlich empfiehlt, wenn es keine Infektion gab. Oder eine Maske aufzieht, wenn man erkältet ist und trotzdem zur Arbeit kommt.
Daran erinnerte etwa die Immunologin Christine Falk Anfang Oktober im NDR-Podcast "Coronavirus-Update". "Wenn die Aufmerksamkeit dafür da ist, können wir das gemeinsam gut hinkriegen – so ein Schutz hilft ja auch gegen andere Viren, die man sich über den Nase-Rachen-Raum einfangen kann."
Aber auch die Politik ist weiterhin gefragt. "Selbst wenn wir jetzt viel über Coronaviren gelernt haben, heißt das nicht, dass wir auf die nächste Pandemie automatisch gut vorbereitet sind", kritisierte die Virologin Isabella Eckerle. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger müssten sich Gedanken darüber machen, wie künftige globale Krankheitsausbrüche verhindert werden können.
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Da sei "mehr als nur die Eigenverantwortung gefragt". Zwar sei man nach der Krise besser aufgestellt – etwa mit Investitionen in Impfstoffe, Medikamente und Forschung. "Aber was meiner Ansicht nach oft zu kurz kommt, ist dieser Präventionsgedanke", betont die Corona-Expertin. "Was können wir tun, damit das Risiko, dass neue Viren auf den Menschen überspringen, nicht so groß ist?" Baustellen nennt die Expertin viele: Sich verändernde Ökosysteme im Klimawandel, exotischer Haustierhandel und Pelztierfarmen, eine lückenhafte Überwachung zirkulierender Viren. Auch wenn diese Pandemie vorbei ist, könnte die nächste jederzeit kommen. So wie vor vier Jahren plötzlich Corona auftauchte.