Vor allem Lindner habe sich nicht zu einem Kompromiss durchringen können, der Scholz den Auftritt auf dem Parteitag erleichtert hätte, wird in der Partei erzählt. Rehlinger führt in Saarbrücken eine SPD-Alleinregierung, Scholz’ Probleme mit Koalitionspartnern hat sie nicht. Sie ruft: "Wir wünschen dir allen Erfolg der Welt."
Im Ansehen geschwächt durch beispiellos schlechte Umfragewerte für eine Kanzlerpartei, dankt Scholz gleich zu Anfang seiner gut 50-minütigen Rede für den Zusammenhalt der Partei. Er geht bis zum Parteitag 2019 zurück, als sie das Programm inklusive Mindestlohnerhöhung für die Bundestagswahl 2021 vorbereitete, die Scholz später als Kanzlerkandidat entgegen aller Vorhersagen gewann. Er kennt das also, von ziemlich weit untern wieder hochzukommen. Die SPD schaffe das, weil sie anders als früher geschlossen sei, betont er – das sei "die Grundlage des Erfolgs". Diese sozialdemokraktische Partei werde auch die nächsten Jahre zusammenbleiben, ruft Scholz, das weiße Hemd oben aufgeknöpft. Wieder Applaus.
Er geht viele Themen durch: Deutschland werde die Ukraine – eher mehr als bisher – in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland unterstützen. Der Kampf gegen den Klimawandel gehe weiter. Dieser bedrohe nämlich die Zukunft des Planeten und auch den Wohlstand. Und "ganz klar und unbestritten" sei, dass Deutschland an der Seite Israels stehe. "Wir unterstützen das Recht auf Selbstverteidigung." Und er setze darauf, dass Israel nach der mörderischen Attacke der radikalislamischen Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober im Gazastreifen "entlang der Regeln, die das Völkerrecht vorsieht", vorgehe. Ein kleiner Protest auf der Bühne mit einem Transparent mit der Aufschrift "Wo bleibt das Völkerrecht in Gaza" wird schnell abgeräumt.
Scholz spricht die Notwendigkeit der Einwanderung von Fachkräften an und verteidigt den verschärften Kurs in der Migrationspolitik. Und er betont die Politik für die sogenannten kleinen Leute – mit Respekt.
Nach 27 Minuten kommt er an den wunden Punkt, dass es noch keine Einigung im Streit um den Haushalt 2024 gibt. Der Umgang mit dem Karlsruher Urteil sei "eine sehr schwere Aufgabe", räumt er ein. "Aber ich will Zuversicht vermitteln, dass uns das gelingen wird." Dies werde in einer Weise geschehen, die gut sei für die Zukunft Deutschlands. Wie – das sagt er nicht. Nur, dass das keine unlösbare Aufgabe sei. "Wir müssen uns nur verständigen", sagt Scholz. Wenn es doch nur so einfach wäre.
Eine Leitplanke zieht er allerdings unter dem erneuten Beifall des Parteitags ein: "Für mich ist ganz klar: Es wird keinen Abbau des Sozialstaats in Deutschland geben." Der Sozialstaat sei neben der Demokratie eine der größten Errungenschaften des Landes. Deswegen werde es auch keine Rücknahme der zum Jahreswechsel geplanten Bürgergelderhöhung geben, die FDP und Union fordern. "Man muss in solchen Situationen auch mal widerstehen", stellt er klar.
Zum Schluss sagt Scholz, was ihn "sehr umtreibt": "Wieso eigentlich werden überall diese rechtspopulistischen Parteien stärker?" Er zählt viele Länder von den Niederlanden bis zu den USA als Beispiele auf. Er gibt selbst eine Antwort. Es habe mit der Unsicherheit der Menschen zu tun, ob die globalen Veränderungen gut für sie persönlich ausgehen. Das hatte Scholz bereits in seiner ersten Regierungserklärung nach Amtsantritt vor zwei Jahren gesagt und damals versichert: Es werde gut ausgehen. Doch bei den Bürgerinnen und Bürgern greift die Verunsicherung weiter um sich, wie Umfragen zeigen.
Dem Erstarken der Rechtspopulisten müsse mit einer "Perspektive", einem "Plan" begegnet werden, erklärt der Bundeskanzler. Die Zuversicht, dass es für alle gut ausgehe, werde begründet sein, "wenn wir die richtigen Dinge tun". Das genau wird ihm aber eben von einem Großteil der Bevölkerung abgesprochen.
An einem Punkt bringt Scholz den Parteitag dann noch zum Lachen: "Manches von dem, was da so passiert ist, hätte ich echt nicht gebraucht." Und es mache die Lage auch nicht besser, als dass es in anderen Ländern auch viel Streit gebe. Manchmal seien dort sieben Parteien in einer Koalition. Bitte nicht, ist eine Hoffnung, die aus dem Stöhnen in den Delegiertenreihen zu schließen ist. Drei – SPD, Grüne und FDP – reichen auch.
Ganz still wird es in der Halle, als Scholz über den Hass spricht, der sich in sozialen Medien durch die Gesellschaft frisst – oft von Rechtsextremen angeheizt. Und über die Aufwiegelung gegen Schwächere wie Migranten und Bürgergeldempfänger. Der Sozialdemokrat erinnert an die Gründung der SPD im 19. Jahrhundert. Arme Frauen und Männer seien das gewesen. Sie hätten keinen Hass gesät, sondern auf Solidarität gesetzt. Und deshalb gelte auch in Zukunft: Selbst wenn es einem schlecht gehe, dürfe man keine rechtsradikalen Ideen haben. "Das hat nichts mit miteinander zu tun." Applaus brandet auf.
Die SPD habe eine Geschichte und Verantwortung für die Demokratie, mahnt Scholz. "Es braucht uns. Es braucht eine sozialdemokratische Partei in schwierigen Zeiten (...). Wir müssen zusammenhalten und einen klaren Kurs haben, und das ist meine Hoffnung." Das streichelt die Seele der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Parteichefin Saskia Esken wird später sagen: "Die Rede hat uns im Herzen angefasst. Ganz ehrlich."
In der anschließenden Aussprache verlangen Delegierte aber, dass die Regierung auch 2024 die Schuldenbremse aussetzt, was Lindner bisher vehement ablehnt. Der neue Vorsitzende der Jungsozialisten, Philipp Thürmer, sagt zu dem viel zitierten Versprechen von Scholz, wer bei ihm Führung bestelle, bekomme sie auch: "Hiermit bestelle ich sie. Wir warten dringend auf Lieferung." Deutschland sei aktuell gespaltener denn je. Wer aus der Defensive kommen wolle, müsse auf Angriff spielen und "nicht der Freund von Robert und Christian" sein wollen.
Franz Müntefering ist auch da. Der 83-Jährige hat eine schwere Operation sichtlich gut überstanden, er steht geradezu blendend da. "Opposition ist Mist", hat der früher Partei- und Fraktionschef einmal gesagt. Ein Team der ZDF-Satiresendung "heute-show" fängt ihn am Eingang der Parteitagshalle ab. Er soll was Lustiges über eine große Koalition sagen, CDU-Chef Friedrich Merz, CSU-Chef Markus Söder und so. Die Ampelkoalition sei doch "die größte Koalition, die wir jemals gehabt haben", antwortet er nüchtern. Warum? "Alle wichtigen politischen Aspekte, die es gibt in Deutschland, sind in dieser Koalition qualifiziert enthalten." In der SPD sagt man: Glück auf.
Der Parlamentsgeschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei, warf der SPD ein "Ausblenden der Realität" vor. Antworten im Haushaltsstreit bleibe sie hingegen schuldig, sagte Frei.