Groß sei die Gefahr einer technischen Katastrophe, sagte er. "Das Kraftwerk muss nun von außen versorgt werden und allein seit September gab es sechs Zwischenfälle, bei denen die Stromversorgung unterbrochen wurde. In den 40 Jahren zuvor gab es keinen einzigen solchen Zwischenfall", sagte Orlow in Saporischschja.
Von den vor Kriegsbeginn rund 53 000 Einwohnern leben nach Angaben des 38-Jährigen inzwischen noch etwa 10 000 Menschen in der Stadt. Von den einst 10 000 Beschäftigten der Kraftwerksanlagen sei bloß noch jeder Fünfte dort. Die russischen Besatzer hätten Mitarbeiter mit Drohungen und Misshandlungen bis hin zu Folter schikaniert. Solche Fälle seien namentlich bekannt und könnten belegt werden. Nun fehle es an qualifizierten Experten, da Russland keinen Ersatz gestellt habe.
Die Militarisierung der Atomanlage inmitten der Kämpfe sei eine Gefahr an sich. "Russland hat die Anlage zu einem Militärlager ausgebaut, in dem 1000 Mann ständig vor Ort sind", sagte Orlow. "Das größte Problem für die Sicherung des Kraftwerks ist die Unberechenbarkeit der Besatzer."
Der Staudamm, aus dessen Stausee das Kühlwasser für das AKW abgezapft wurde, wurde im Krieg zerstört. Nun drohe Kühlwassermangel im verbliebenen Rückhaltebecken und eine gefährliche Kombination verschiedener Risikofaktoren, warnte Orlow. Laut dem jüngsten Lagebericht der IAEA haben die russischen Besatzer die Versorgung mit Kühlwasser jedoch wieder weitgehend sichergestellt, indem unter anderem Grundwasserbrunnen gegraben wurden.
Der Damm in der von russischen Truppen besetzten Stadt Nowa Kachowka war am 6. Juni zerstört worden. Die Ukraine, die sich seit mehr als 18 Monaten gegen den russischen Angriffskrieg verteidigt, wirft Russland vor, das Bauwerk gesprengt zu haben. Moskau behauptet dagegen, ukrainische Streitkräfte hätten den Staudamm beschossen und so zerstört. Die ukrainische Regierung kündigte an, den Staudamm nach der Befreiung des Landes wieder aufzubauen. Inzwischen breitet sich auf den früheren Wasserflächen Schilfgras bis zum Horizont aus.
Russland hatte Anfang März 2022 die Einnahme des AKW Saporischschja verkündet. Das mit sechs Reaktoren größte Atomkraftwerk Europas liegt im umkämpften Gebiet nahe der Front. Die Reaktoren sind schon seit September 2022 heruntergefahren. In der Nähe der Anlage gibt es immer wieder Kämpfe. Beschädigungen an AKW-Gebäuden und Stromleitungen im Zuge des Krieges haben weit über die Ukraine hinaus Sorgen vor einen Atomunfall geschürt. Ein Team der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ist ständig vor Ort, bekam von den russischen Besatzern bislang aber keinen ungehinderten Zugang zu allen Bereichen des Kraftwerks gewährt.
Von Folter oder Misshandlungen an ukrainischen AKW-Mitarbeitern durch Russen war in den knapp 200 Ukraine-Berichten der IAEA bislang noch nie die Rede. Doch IAEA-Chef Rafael Grossi hat darauf hingewiesen, dass die Kämpfe um das AKW und die russische militärische Präsenz in der Anlage nicht nur die Sicherheit des Kraftwerks gefährden, sondern auch zum psychologischen Stress der Belegschaft beitragen. Damit steigt laut IAEA das Risiko von Bedienungsfehlern. Zuletzt berichtete Grossi vorige Woche von Drohnenangriffen auf Enerhodar. Das IAEA-Team hat zwar bislang keine schweren Waffen im Kernkraftwerk beobachtet, aber Minen zwischen der äußeren und inneren Eingrenzung des Kraftwerksgeländes entdeckt.
Die Ukraine war bereits Schauplatz eines Reaktorunfalls, der Katastrophe im AKW Tschernobyl nördlich von Kiew, wo 1986 noch zu Sowjetzeiten ein Reaktor explodiert war. Dies löste den größten radioaktiven Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Nuklearenergie aus.
dp/fa