Als Favorit gilt der derzeitige Vizepräsident Lai Ching-te, der im Falle eines Siegs den Peking-kritischen Kurs der Amtsinhaberin fortsetzen will. Lai gab seine Stimme in seiner Heimatstadt Tainan ab. Sein wichtigster Widersacher Hou Yu-ih wurde von der chinafreundlichen Kuomintang (KMT) aufgestellt. Hou ist Bürgermeister von New Taipei, ein Amt, von dem er sich verabschiedete, um für das Präsidentenamt zu kandidieren.
Der Alternativkandidat Ko Wen-je von der Taiwanesischen Volkspartei, der sich bei jungen Wählern, die eine Alternative zu den beiden großen Parteien suchen, großer Beliebtheit erwiesen hat, stimmte in Taipeh ab. Auf die Frage von Journalisten, wie er sich fühle, sagte Ko in seiner bekannten trockenen Art, er wolle jeden Tag sein Bestes geben, "und die nächste Etappe planen, wenn wir dort ankommen."
Der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, ohne Stichwahl. Amtsinhaberin Tsai durfte nach zwei Amtszeiten nicht erneut antreten. Ergebnisse wurden für den Abend erwartet. Wegen strenger Wahlgesetze können Medien die Wähler am Tag der Stimmabgabe nicht zu ihrer Wahl befragen. Abgehalten wurden am Samstag auch Parlamentswahlen.
China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz, die wieder mit dem Festland vereinigt werden soll - notfalls mit militärischer Gewalt. Der Ausgang der Wahl gilt als entscheidend für das künftige Verhältnis zwischen Taipeh und dem zunehmend aggressiv auftretenden Peking.
Chinas militärische Drohungen könnten einige Wähler gegen die Unabhängigkeitskandidaten bewegen, aber die USA haben ihre Unterstützung für jede neue Regierung zugesagt, verstärkt durch die Pläne der, kurz nach der Wahl eine inoffizielle Delegation aus ehemaligen hochrangigen Beamten auf die Insel zu entsenden.
Neben den Spannungen in China dominierten innenpolitische Themen den Wahlkampf, insbesondere eine Wirtschaft, die im vergangenen Jahr Schätzungen zufolge nur um 1,4 % gewachsen ist. Dies spiegelt zum Teil unvermeidliche Zyklen bei der Nachfrage nach Computerchips und anderen Exportgütern aus der hochtechnologischen, stark vom Handel abhängigen Produktionsbasis sowie eine Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft wider.