Die scheidende EU-Kommissarin Margrethe Vestager hat den EU-Regierungen vorgeworfen, die Bemühungen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Schaffung einer geschlechterparitätischen Kommission untergraben zu haben. Vestager betonte, die EU müsse "den Jungen und Mädchen zeigen", dass Führung bedeute, dass Männer und Frauen "gemeinsam führen".
Auf den ersten Blick mag die Europäische Union – mit Ursula von der Leyen an der Spitze der wichtigen Exekutive – wie ein Musterbeispiel für Geschlechtergleichheit erscheinen. Dennoch steht die EU diese Woche vor der Herausforderung eines Männerüberschusses bei den Spitzenpositionen. Obwohl von der Leyen, die erste Frau an der Spitze der Europäischen Kommission, nichts sehnlicher wünscht als völlige Parität in dem Gremium, das das Tagesgeschäft des größten Handelsblocks der Welt leitet, sieht die Realität anders aus.
"Eines ihrer wichtigsten Ziele ist die Erreichung eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses in Entscheidungsprozessen", heißt es in der Strategie von der Leyens scheidender Europäischer Kommission. Ihr Büro sei "entschlossen, mit gutem Beispiel voranzugehen", indem 2019 die erste Frau zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde und erstmals ein geschlechterparitätisches Kollegium der Kommissare gebildet wurde.
Trotz dieser Vorreiterrolle stehen von der Leyens Bemühungen um Geschlechtergleichheit unter Beschuss. Die Hauptstädte der EU haben von der Leyens ausdrückliche Forderung, männliche und weibliche Kandidaten für die neue Kommission vorzuschlagen, weitgehend ignoriert. Von den 25 Mitgliedstaaten, die aufgefordert wurden, Kandidaten zu nominieren, ist nur Bulgarien der Forderung nachgekommen, beide Geschlechter zu repräsentieren. Insgesamt nominierten nur acht Länder weibliche Kandidaten, sodass lediglich zehn (37 %) der vorgeschlagenen Kommissare Frauen sind. Dazu zählen Ursula von der Leyen selbst und die designierte Hohe Vertreterin für Außenpolitik, die Estin Kaja Kallas.
Die von der Leyen unterbreiteten Vorschläge zur Schaffung eines geschlechterparitätischen Kollegiums wurden von vielen Mitgliedstaaten ignoriert, da nationale politische Überlegungen oft wichtiger erscheinen als EU-weite Paritätsziele. Länder wie Irland haben sich auf das Recht berufen, ihren besten Kandidaten zu wählen, auch wenn dies bedeutet, erneut einen Mann vorzuschlagen. "Wir haben einen Kandidaten von sehr hohem Niveau vorgeschlagen, das ist für mich das wichtigste Kriterium", sagte der irische Außenminister Micheál Martin in Bezug auf die Nominierung des irischen Finanzministers Michael McGrath.
Von der Leyen sah sich zunächst mit einer überwältigend männlich dominierten Liste von 21 Männern konfrontiert, was zu einer von Männern dominierten Kommission geführt hätte – ein Rückschritt, wie es ihn seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat.
Von der Leyens eingeschränkte Auswahlmöglichkeiten sind den komplizierten Regeln der EU geschuldet, die es jedem Mitgliedstaat erlauben, einen Kommissar vorzuschlagen. Obwohl sie darum gebeten hatte, dass jedes Land sowohl einen männlichen als auch einen weiblichen Kandidaten aufstellt, haben sich viele Mitgliedstaaten aus nationalen, politischen oder persönlichen Gründen dieser Aufforderung entzogen. Diese Realität erschwert es von der Leyen erheblich, ihre Vision eines geschlechterparitätischen Gremiums umzusetzen.
In ihrem Brüsseler Büro, das von einem riesigen Bild der Gründerväter des EU-Treffens von 1957 dominiert wird, bleibt von der Leyen mit dieser Herausforderung konfrontiert. Obwohl die EU oft als der fortschrittlichste Staatenverbund in Geschlechterfragen gilt, sind auch hier die Hürden hoch.
Vestager, die in ihren zehn Jahren als EU-Kommissarin für Wettbewerb ein Schwergewicht in Brüssel wurde, hat die größten Unternehmen der Welt wegen ihrer Marktdominanz mit hohen Geldstrafen belegt. Auch den großen Technologieunternehmen ist sie ein Dorn im Auge geworden: Sie war an der Entwicklung des bahnbrechenden Digital Services Act und der weltweit ersten Verordnung zur Einführung von Leitplanken für die KI-Technologie beteiligt. Ihre Verdienste brachten ihr 2023 einen Platz auf der Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt des TIME-Magazins ein.
Gegenüber Euronews sagte sie, sie bedauere das Versäumnis, für genügend weibliche Kandidaten zu sorgen. Dieser Rückschlag in den Bemühungen der EU-Exekutive zeige, dass eine Kommission mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis "in der Lage ist, beispiellose Arbeit zu leisten." Vestager ließ die Tür für eine Rückkehr ins öffentliche Leben offen, nachdem ihre jahrzehntelange Amtszeit im Herbst endet. "Ich denke, die Geopolitik dieser Welt sollte Europa dazu ermutigen, sich viel stärker mit der Welt um uns herum auseinanderzusetzen", sagte sie.
In einem letzten Versuch, das Geschlechterverhältnis auszugleichen, verzeichnete von der Leyen am späten Montag einen Erfolg: Belgien zog den scheidenden Justizkommissar Didier Reynders zurück und schlug stattdessen Außenministerin Hadja Lahbib vor. Damit könnte das Geschlechterverhältnis auf 17 Männer zu 10 Frauen ansteigen.
Sobald von der Leyen die Kandidatenliste komplettiert hat, wird sie dem Europäischen Parlament vorgelegt, wo jeder Kandidat eine Anhörung durchläuft und bestätigt werden muss. Die Debatten dazu werden voraussichtlich den größten Teil des Septembers andauern.
Vestagers Kritik an den EU-Regierungen zeigt die anhaltenden Herausforderungen bei der Umsetzung von Geschlechtergleichstellung in führenden politischen Positionen. Ihre Worte verdeutlichen die Notwendigkeit, dass Europa weiterhin an der Spitze der Bemühungen um Chancengleichheit bleibt, um ein Vorbild für zukünftige Generationen zu sein.
In einer Zeit, in der globale politische Herausforderungen zunehmen, ist die Geschlechterparität in Führungsgremien nicht nur ein Symbol, sondern ein notwendiger Schritt, um die EU als modernes und zukunftsorientiertes politisches Gebilde zu präsentieren. Vestagers Engagement für Gleichstellung und ihre Arbeit in der EU-Kommission setzen ein deutliches Zeichen dafür, dass Diversität und Fairness in der Führung wesentliche Faktoren für den Erfolg Europas sind.
Quellen: The Guardian, TIME Magazine, Euronews, Politico Europe