Politisch galt der im Präsidialamt des Westjordanlands residierende Abbas schon lange als abgeschrieben, doch jetzt feiert er ein fast schon unheimliches Comeback: Für Politiker in Israel wie Oppositionsführer Jair Lapid, den viele für den kommenden Ministerpräsidenten halten, sollte Abbas’ Fatah nach der Verdrängung der Hamas-Terroristen in Gaza wieder die Macht übernehmen.
Auch der ehemalige Regierungschef Ehud Barak sehe in Abbas einen künftigen Ansprechpartner, weil an der Rückkehr der Diplomatie mit dem Endziel der Schaffung eines gemäßigten palästinensischen Staates eben kein Weg vorbeiginge. Am weitesten ging US-Außenminister Antony Blinken, der auf seiner Friedensmission in Nahost am Sonntag in Ramallah Station machte und Abbas besuchte – das kam einer politischen "Adelung" gleich. Bereits wenige Tage zuvor hatte Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron Abbas besucht.
Innerhalb von Jassir Arafats Palästinensischer Befreiungsorganisation (PLO), der "Mutter" aller palästinensischen Organisationen, galt Abbas sehr früh als gemäßigt. Deshalb wurde der Arafat-Stellvertreter auch vom Westen als Verhandlungsführer mit Israel ins Spiel gebracht. Denn sein Chef, Jassir Arafat, war vor allem als Ikone des bewaffneten Kampfes, der sich zu oft der Mittel des Terrors bediente, zu globaler Prominenz gekommen, auch wenn die PLO seit 1973 offiziell dem Terrorismus abgeschworen hatte.
Anders als die Hamas erkennen PLO und Fatah seit 1993 ganz offiziell "das Recht des Staates Israel auf Existenz in Frieden und Sicherheit an", wie es in einem Brief Arafats an den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Izchak Rabin hieß. Die PLO verzichte zudem "auf Terror und jede andere Art von Gewalt".
Gleichzeitig hat es sich Abbas, der bis zum Tod des PLO-Vorsitzenden Arafat als sein Stellvertreter maßgeblich den Friedensprozess mit Israel (bis 1993) mitgestaltet hatte, in seiner nunmehr fast 30-jährigen Regentschaft als Palästinenser-Präsident mit nahezu allen am Prozess beteiligten Parteien verscherzt: Die Palästinenser versagten ihm bei den letzten Wahlen 2006 die Gefolgschaft, weil Abbas’ Fatah-Bewegung als korrupt galt, als zu versöhnlerisch gegenüber Israel und weil sie die desolate Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht wirklich zu verbessern vermochte.
Im Gegenzug vertraute eine Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung der radikalen islamistisch-fundamentalistischen Hamas, die zuvor den Friedensprozess mit Israel durch blanken Terror torpediert hatte. Als Abbas das international nicht anerkannte Wahlergebnis im Gazastreifen ignorierte, wurde seine Verwaltung dort 2007 von militanten Hamas-Aktivisten in einem kurzen, innerpalästinensischen Bürgerkrieg hinweggeputscht.
Fortan galt er als Präsident ohne Rückhalt. Auch seine Auftritte auf internationalem Parkett, wie 2022 im Bundeskanzleramt, als Abbas Israel des Holocausts an Palästinensern bezichtigte oder an anderer Stelle Israel einen Apartheidstaat nannte, misslangen. Der Westen rückte von ihm ab. In der islamischen Welt schwand sein Einfluss, weil viele arabische Staaten wie die VAE, Marokko, Bahrein und Saudi-Arabien eine Aussöhnung mit Israel anstrebten.
Andere Staaten, wie der Iran, Katar und die Türkei forcierten teils versteckt ihre finanzielle und materielle Unterstützung für die Hamas oder die Hisbollah im Libanon. In Abbas’ verbliebenem Kernland, dem Westjordanland, eskalierten israelische Siedler und radikale Einflüsterer unter den Palästinensern setzten seiner Fatah-Bewegung, deren Autonomieverwaltung angesichts der zunehmenden Spannungen wie paralysiert wirkte, zusätzlich zu. Mehrfach war es zu spektakulären Versöhnungsgesten zwischen Hamas und Fatah gekommen – die jedoch bisher nicht hielten.
In diesem Spannungsfeld war es ruhig um Abbas und die Fatah-Führung geworden, bis die Hamas am 7. Oktober mit einem an Grausamkeit selbst im Nahen Osten beispiellosen Blutbad 1400 Israelis massakrierte und über 250 Menschen kidnappte. Mehr als eine Woche dauerte es, bis sich Palästinenserpräsident Abbas von den brutalen Morden und der Geiselnahme im Namen des palästinensischen Befreiungskampfes distanzierte. Die Taten der Hamas "repräsentieren nicht das palästinensische Volk", sagte er. Wenige Worte, spät gefallen – doch war es dafür zu spät?
Offenbar nicht. Die Weltgemeinschaft schien erleichtert. Das "Phantom von Ramallah", scheinbar längst von einer aus den Fugen geraten Welt überrollt, könnte seine letzte Rolle gefunden haben: Als Repräsentant eines palästinensischen Volkes, das den Glauben an Zweistaatenlösung, an eine friedliche Nachbarschaft mit Israel, an einen gewaltfreien Widerstand, längst verloren hat. Mahmud Abbas steht, eine Woche vor seinem 88. Geburtstag, vielleicht vor der größten Herausforderung seines langen Politikerlebens.