"Die Dinge werden besser, aber die Leute denken, dass alles nur schlimmer wird – das ist das Gefährlichste an der Sache", sagt die demokratische Meinungsforscherin Celinda Lake, die für Biden gearbeitet hat. Die Menschen würden sich inzwischen nicht mehr nur mit nachlassender Inflation zufrieden geben, sie würden echte Preisstürze erwarten – etwas, was es zuletzt während der Wirtschaftskrise in den 30er Jahren gegeben habe.
In vielerlei Hinsicht ist die US-Wirtschaft derzeit sehr robust. Im November wurden laut Zahlen von vergangenen Freitag 199.000 Arbeitsplätze geschaffen; die Arbeitslosenrate sank auf 3,7 Prozent. Und die Inflation ist innerhalb von gut einem Jahr von beunruhigenden 9,1 Prozent auf nur noch 3,2 Prozent zurückgegangen – ohne dass es zu einer Rezession gekommen wäre, was einige einst skeptische Ökonomen als erstaunlich bezeichnen.
Ein von der University of Michigan veröffentlichter Index der Verbraucherstimmung zeigt, dass große Teile der Bevölkerung die wirtschaftliche Entwicklung dennoch negativ sehen. "Seit der Pandemie sind die Verbraucher hinsichtlich der Wirtschaft ganz allgemein beunruhigt. Und sie haben sich noch nicht mit dem Gedanken abgefunden, dass wir nicht zu der ‚Normalität‘ vor der Pandemie zurückkehren werden", sagt Joanne Hsu, die Leiterin der Untersuchung.
"Wir müssen weiter dafür kämpfen, die Kosten zu senken und auf den bereits erzielten Fortschritten aufzubauen", sagt Jared Bernstein, der das Weiße Haus in Wirtschaftsfragen berät. Er betont, dass eine starke Wirtschaft "absolut notwendig" sei, um die Verbraucherstimmung aufzuhellen. Und je länger es bergauf gehe, desto mehr Menschen würden die positive Entwicklung wahrnehmen. "Wir brauchen einfach mehr Zeit, bis die Verbesserungen bei den amerikanischen Arbeitern ankommen."
Das Weiße Haus zeigte sich zuletzt aber auch bemüht, Erfolge besser zu verkaufen als bisher. Seit dem Sommer nutzt der Präsident in öffentlichen Reden zunehmend das Wort "Bidenomics", wenn er seine wirtschaftspolitischen Ansätze beschreibt. Regierungsvertreter nannten gezielt Produkte, die wieder günstiger geworden sind, wie etwa Eier oder Truthähne zum Thanksgiving-Fest. Der Präsident hob mehrfach hervor, dass er eine deutliche Reduzierung der Insulinpreise erreicht habe. Andere Demokraten verwiesen auf die wieder gesunkenen Kosten für Treibstoff.
Parallel äußert Biden inzwischen immer wieder den Vorwurf, die Inflation sei teilweise auch durch Unternehmen verursacht worden, die eine Gelegenheit gesehen hätten, Preise zu erhöhen, um ihre Gewinne zu steigern. Zudem bemüht er sich, die Bilanz seines Vorgängers Donald Trump, der laut Umfragen gute Chancen hat, erneut der Kandidat der Republikaner zu werden, infrage zu stellen. In einer Mitteilung seines Teams anlässlich der Arbeitsmarktzahlen von Freitag hieß es, während der Amtszeit von Trump seien drei Millionen Jobs verloren gegangen.
Die Strategie der Republikaner scheint die zu sein, die positiven Wirtschaftsdaten nicht groß zu beachten, und sich stattdessen ganz auf die Unzufriedenheit der Menschen zu konzentrieren. "Die Herausforderung sind steigende Lebenshaltungskosten", sagte Glenn Youngkin, Gouverneur des Staates Virginia, am Montag auf einer Veranstaltung von Bloomberg News in Washington. Nach drei Jahren Biden würden 60 Prozent der Amerikaner "von Gehaltscheck zu Gehaltscheck leben".
Die Finanzexpertin Claudia Sahm, die für die US-Notenbank gearbeitet hat, erhielt laut eigenen Angaben nach Hinweisen auf Anzeichen für eine starke Wirtschaft wütende Reaktionen im Internet. Die Haushalte in den USA stehen im Durchschnitt besser da als 2020; die Ungleichheit ist etwas zurückgegangen, weil jüngste Lohnsteigerungen ärmeren Arbeitern zugute gekommen sind. Doch viele Menschen sind nach den Schocks der Pandemie und der Inflation offenbar stark verunsichert. "Alles ist schnell gegangen. Es war disruptiv und verwirrend", sagt Sahm.
Für die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen den statistischen Daten und der Stimmung in der Bevölkerung gibt es wohl nicht die eine Erklärung. Experten sehen eher ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren. Neben dem Einfluss der Pandemie könnte die Verbreitung von sozialen Medien, in denen Influencer ihren ausschweifenden Lebensstil zur Schau stellen, die Maßstäbe zur Einordnung der eigenen Verhältnisse verzerrt haben. Viele Menschen dürften bei ihrer Bewertung der Wirtschaftslage auch mehr nach politischen Überzeugungen als nach nüchternen Zahlen gehen.
Darüber hinaus könnte es auch sein, dass viele Menschen einfach etwas mehr Zeit brauchen, sich nach der Phase der Inflation gedanklich auf eine veränderte Lage einzustellen. "Die Stimmung ist noch immer von der hohen Inflation im vergangenen Jahr getrübt", sagt der US-Wirtschaftsexperte Ryan Cummings. "Je weiter dies im Rückspiegel dahinschwindet, desto geringer werden wohl die entsprechenden Auswirkungen sein."
Ein weiterer Faktor ist nach Einschätzung von Experten der, dass während der Corona-Pandemie Millionen US-Haushalte Unterstützung vom Staat erhalten hatten. Dass diese Hilfen inzwischen weggefallen sind und viele Menschen dadurch trotz Lohnsteigerungen weniger Geld zur Verfügung haben, dürfte ebenfalls zu der insgesamt pessimistischen Stimmung beitragen.