Im Juni wurde deshalb auch die Anwerbung von verurteilten Straftätern durch die russische Armee legalisiert. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings schon längst bekannt, dass zumindest die Söldnergruppe Wagner bereits in großem Ausmaß Gefängnisinsassen rekrutiert hatte. Insbesondere in der bis zum Sommer 2023 andauernden Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut sollen sie in Scharen als "Kanonenfutter" gedient haben. Tausende starben.
Der Kreml rechtfertigt die umstrittene Praxis damit, dass die Männer für ihre Verbrechen "mit Blut auf dem Schlachtfeld büßen". Wie viele Häftlinge auf diesem Weg die Gefängnisse bereits vorzeitig verlassen haben, darüber aber schweigt Moskau offiziell - wie über so vieles in diesem Krieg. Die Nichtregierungsorganisation "Rus Sidjaschtschaja" ("Russland hinter Gittern") sprach bereits vor knapp einem Jahr von rund 50.000 Rekruten, die in Gefängnissen angeworben worden seien. Von ihnen seien aber schon damals nur noch 10.000 im Einsatz gewesen, der Rest sei getötet, verletzt, verschollen oder in ukrainische Gefangenschaft geraten. Verlässliche aktuelle Zahlen gibt es nicht.
Geschwiegen werden soll nach dem Willen des russischen Machtapparats offenbar auch darüber, wie viele der begnadigten Verbrecher nach ihrer Rückkehr aus dem Kampfgebiet in Russland erneut straffällig werden. Informationen des Portals "Meduza" zufolge wurden staatliche Medien vom Kreml erst kürzlich dazu angehalten, über solche Fälle nicht zu berichten, damit die Russen "keine Angst bekommen".
Doch geheim halten lässt sich die Thematik längst nicht mehr. Denn der Kreml-Militärromantik von den angeblich geläuterten Verbrechern steht oft eine ganz andere Realität gegenüber: Da ist etwa ein Mörder aus dem Gebiet Kirow, der von Wagner rekrutiert wurde und nach seiner Rückkehr aus der Ukraine in seinem Heimatdorf eine 85 Jahre alte Rentnerin erstach.
Oder ein ebenfalls begnadigter Mörder aus Kemerowo, der - gerade zurück von der Front - im Alkoholrausch seinen Freund umbrachte. Oder ein ehemaliger Kämpfer aus Nowosibirsk, der ein zehn Jahre altes Mädchen vergewaltigt haben soll. Ganz zu schweigen natürlich von Kriegsverbrechen, die diese Männer möglicherweise in der Ukraine begangen haben.
Wie gravierend die Folgen aus dem Krieg heimkehrender Verbrecher für die russische Gesellschaft langfristig sein werden, darüber kann laut Experten bislang nur gemutmaßt werden. Unklar sei das auch deshalb, weil noch niemand wissen könne, wie viele der begnadigten Häftlinge ihren Einsatz an der Front überhaupt überleben werden, sagte etwa die Soziologin Asmik Nowikowa kürzlich dem russischsprachigen Dienst des US-Senders "Radio Liberty".
Doch selbst kremltreue Politiker halten einen Anstieg der Kriminalität vor diesem Hintergrund durchaus für denkbar. "Irgendwo wird jetzt möglicherweise die Kriminalitätsrate ansteigen", sagte der Dumaabgeordnete Maxim Iwanow dem Portal "74.ru".
Und das ist nicht die einzige Kriegsfolge, die Russlands Gesellschaft noch lange spüren dürfte. Stemmen muss sie auch enorme finanzielle Kosten - nicht nur für die von Putin angeordneten Kämpfe selbst, sondern auch für langfristige Ausgaben wie Veteranenrenten, Zahlungen an Hinterbliebene, Prothesen und andere gesundheitliche Leistungen. Alleine im kommenden Jahr sollen die Militärausgaben mehr als ein Drittel des knapp 37 Billionen Rubel (rund 370 Milliarden Euro) umfassenden russischen Staatshaushalts ausmachen - ein Rekordwert.