Die Fronten in Deutschlands größter Niedriglohnbranche sind seit Monaten verhärtet: Mehr als 3,1 Millionen Menschen arbeiten im Einzelhandel, viele davon in den unteren Entgeltgruppen. Verdi will 2,50 Euro pro Stunde mehr für die Beschäftigten rausholen. Zuletzt liefen nicht einmal mehr Gespräche, weshalb Verdi-Chef Frank Werneke jüngst die Streiks kurz vor den Feiertagen ankündigte. In ganz Deutschland werde im Handel spätestens ab Donnerstag die Arbeit niedergelegt, bestätigte Verdi-Bundesfachgruppenleiterin Corinna Groß am Dienstag. Immerhin mehrere Zehntausende Beschäftigte wollen sich ihr zufolge beteiligen.
Doch was genau auf Kundinnen und Kunden zukommt, lässt sich kaum zusammenfassen: In den 14 einzelnen Tarifregionen verhandeln die regionalen Verdi-Ableger und die Handelsverbände dezentral, die Aktionen sollen es auch sein. Flächendeckende Streiks wird Verdi jedenfalls nicht auf die Beine stellen, stattdessen werden Schwerpunkte gesetzt: In Berlin und Brandenburg etwa erwischt es der Verdi-Ankündigung zufolge vor allem den Lebensmittelhandel, anderswo könnte es einen anderen Fokus geben. "Es kann an diesen drei Tagen zu längeren Wartezeiten an den Kassen kommen, zu Lieferengpässen bei einzelnen Artikeln oder zu Wartezeiten für Beratungsgespräche", sagte Groß lediglich über bundesweit absehbare Folgen.
Beim Handelsverband wirft Haarke der Gewerkschaft indes vor, "stur" auf Maximalforderungen zu beharren: Neben 750 Euro Inflationsausgleichsprämie bieten die Arbeitgeber 10,24 Prozent mehr bei 24 Monaten Laufzeit. Rechnerisch ist das bei den unteren Entgeltgruppen etwa halb so viel wie von Verdi gefordert. Eine Annäherung ist nicht in Sicht, Haarke sieht mit dem Angebot das Ende der Fahnenstange erreicht: "Weitere Verhandlungstermine wird es erst geben, wenn Verdi signalisiert, ‚prinzipiell‘ und ‚in den Grenzen‘ dieses Angebots mit uns Arbeitgebern zu Ende zu verhandeln", bekräftigte er.
Damit bleibt der Handelsverband bei der Strategie der Härte, die auch seine regionalen Ableger zuletzt gefahren hatten: Trotz einiger Arbeitsniederlegungen hatten sie zwischenzeitlich die laufenden Tarifgespräche ganz unterbrochen. Stattdessen bekamen Beschäftigte ein kleines, freiwillig ausgezahltes Lohnplus. Mit Plakaten in Filialen werben die Handelsverbände neuerdings außerdem für ihr Angebot – versehen mit dem Zusatz, dass es zum Jahresende zurückgezogen werden könnte. Man könnte das als Drohung interpretieren.
Ob die auch Wirkung zeigt, kann man indes getrost bezweifeln, zu groß ist der Druck: Wegen der Inflation kämen Beschäftigte im Handel kaum über die Runden, schildert Gewerkschafterin Groß – und hat dabei die Empirie auf ihrer Seite: Die Tariflöhne im Handel stiegen seit 2020 um 4,4 Prozent, die Inflation lag im gleichen Zeitraum bei 16,7 Prozent. "Die Entgelte aus den alten Tarifverträgen sind durch die Inflation längst überholt, es gibt da deutlichen Aufholbedarf", meint Malte Lübker vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI).
"60 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten würden unseren Erhebungen zufolge ihren Job nicht weiterempfehlen", sagt Lübker außerdem. Neben familienunfreundlichen Arbeitszeiten und mangelnder Wertschätzung durch Kundinnen und Kunden seien die Entgelte der Hauptgrund dafür. Mitunter bekämen auch ausgebildete Fachkräfte nur das Niveau des künftigen Mindestlohns von 12,41 Euro. Deutliche Tarifsteigerungen könnten dem vorbeugen – und wären Lübker zufolge auch eine Antwort auf sich abzeichnende Nachwuchssorgen im Handel. "In anderen Niedriglohnbranchen, etwa beim Friseurhandwerk oder im Sicherheitsgewerbe, gab es entsprechende Einigungen bereits", sagt der Wissenschaftler.
Ob das den Ausschlag gibt, bezweifeln andere Fachleute allerdings: Einerseits experimentiere der Handel zunehmend mit Automatisierung. Selbstbedienungskassen und kameragestützte Einkaufssysteme, die ohne Kasse auskommen, schmälern demnach den Personalbedarf – während neues Personal für den Handel absehbar ist: "Die Zuwanderung beschert Deutschland gerade einen massiven Zustrom an Geringqualifizierten, die auf dem Arbeitsmarkt kaum andere Optionen haben", sagte der Handelsexperte Thomas Roeb von der Bonn-Rhein-Sieg.
Eine Einigung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im Handel ist dementsprechend nicht in Sicht. Weihnachtseinkäufe werden dadurch aber kaum verhindert, meint nicht nur der Handelsverband: "Ich erwarte keine gravierenden Auswirkungen, die Schlangen an manch Kasse könnten aber unangenehm lang werden", sagte auch Roeb.