Gegen die Ungerechtigkeit im Land und den "Ein-Mann-Staat" will Kilicdaroglu nun wieder in den Kampf ziehen. Er ist bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen in einer Woche Kandidat für sechs Oppositionsparteien unterschiedlicher Lager. Der 69-jährige Erdogan geht nach 20 Jahren an der Macht erstmals nicht als Favorit ins Rennen - sondern der Oppositionsführer. Während seines Protestmarschs 2017 hatten Anhänger Kilicdaroglu gefeiert und ihm den Spitznamen Mahatma "Gandhi der Türkei" verpasst, auch wegen seines ausgeglichenen Gemüts und der leichten Ähnlichkeit mit dem indischen Widerstandskämpfer. Ob Kilicdaroglu heute wie damals Massen begeistern kann, daran gab es dennoch Zweifel.
Viele waren gegen seine Kandidatur, auch aus den eigenen Reihen. Als Favorit galt der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu, der aber mit einem Politikverbot belegt wurde. Kritiker warfen Kilicdaroglu vor, dass er den Unmut der Bevölkerung über die wirtschaftliche Lage jahrelang nicht in einen Stimmzuwachs für seine Partei ummünzen konnte. Erfolge bei nationalen Wahlen konnte Kilicdaroglu in seinen 13 Jahren als Oppositionsführer nicht vorweisen - im Gegensatz zu Erdogan, der seit er 2003 zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, jede Abstimmung gewonnen hat. Erdogan zieht seinen Gegner gerne damit auf und nennt ihn abfällig Bay Kemal (Herr Kemal). Der Oppositionsführer nimmt das gelassen und nutzt "Bay Kemal" inzwischen als Selbstbeschreibung.
Kilicdaroglu wurde 1948 in der osttürkischen Provinz Tunceli geboren und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Mit einem Video, in dem er sich im April erstmals öffentlich dazu bekannte, brach Kilicdaroglu ein Tabu und erzielte mehr als 100 Millionen Klicks. Studiert hat Kilicdaroglu Wirtschaft in Ankara, in den 90er Jahren leitete er die Sozialversicherungsanstalt. Das Image des farblosen Bürokraten hängt ihm teils noch immer nach. Doch in diesen Tagen scheint alles Angestaubte verflogen. In der Erdogan-Hochburg Ordu am Schwarzen Meer zieht Kilicdaroglu Tausende Zuhörer und Zuhörerinnen an. Die Menschen schwenken Fahnen, stehen an Fenstern und sind sogar auf Dächer geklettert, nur um einen Blick auf Kilicdaroglu zu erhaschen. Der springt für seine 74 Jahre flink auf die Bühne, formt ein Herz mit Zeigefingern und Daumen und ruft: "Seid ihr bereit für Veränderung?" - "Evet" - "Ja", schallt es ihm entgegen.
Der 18-jährige Yasin glaubt, dass das Volk Kilicdaroglu jetzt erst richtig kennenlerne. Wie alle Oppositionspolitiker muss sich dieser Alternativen einfallen lassen, um die Wähler zu erreichen. Erdogan kontrolliert die meisten Medien. Im April räumte der Staatssender Erdogan etwa 32 Stunden Sendezeit ein, Kilicdaroglu dagegen nur 32 Minuten. Yasin sagt, erst jetzt verstehe er, "was für ein anständiger und guter Politiker" Kilicdaroglu sei. Yasin gehört zu den rund fünf Millionen Erstwählern in der Türkei - eine heiß umkämpfte Gruppe. Das größte Problem sei die Wirtschaft, sagt er. Er könne nur davon träumen, in Deutschland Urlaub zu machen, sein Geld reiche noch nicht mal für ein Ticket nach Istanbul. Kritiker werfen Kilicdaroglu vor, keine Anführer-Figur zu sein, wie die Türkei eine brauche. Präsident Erdogan dagegen "bietet der Welt die Stirn", sagt etwa ein 58-Jähriger, der sich als bekennender "Tayyip-Fan" vorstellt.
Kilicdaroglu präsentiert sich als Gegenentwurf zu Erdogan: Ruhiges, statt markiges Auftreten, Wahlkampfvideos aus einer einfachen Küche statt Einweihung von Großprojekten - und gesellschaftliche Versöhnung statt Polarisierung. Die Türken hätten genug von Erdogan und seinem Führungsstil, sagt Kilicdaroglu und plädiert für eine von "Vernunft" geleitete Politik. Im Falle eines Sieges will das Bündnis das Präsidialsystem wieder abschaffen und einen zügigen Beitritt in die EU vorantreiben. Um die angeschlagene Wirtschaft zu stützen, wolle man Investoren auch aus Deutschland gewinnen.
Beim Thema Flüchtlinge schlägt Kilicdaroglu einen nationalistischen Ton an. Er kündigte an, die Millionen Syrer im Land auf freiwilliger Basis zurückzuschicken, wohlwissend, dass sich die Stimmung im Land gegen die Flüchtlinge gewandt hat. Nach der Erdbeben-Katastrophe vom 6. Februar fand der Oppositionsführer direkte Worte: Er ging Erdogan mit scharfer Rhetorik an und warf ihm Versagen vor. Kilicdaroglu gilt als guter Vermittler mit Kompromissbereitschaft. Seine eigene Partei CHP, die als elitär und nationalistisch galt, rückte unter seiner Führung in die Mitte. Die Idee, ein Sechser-Bündnis gegen Erdogan zu schmieden, soll von ihm stammen. Als das Bündnis Anfang März über die Frage, wer gegen Erdogan kandidieren soll, kurz vor dem Zerbrechen war, reagierte Kilicdaroglu gelassen. Es werde sich schon alles fügen, sagte er - und sollte Recht behalten. Die prokurdische HDP gehört nicht zum Sechser-Bündnis, gilt aber als Königsmacher. Sie hat ihre Wähler inzwischen dazu aufgerufen, Kilicdaroglu zu unterstützen.
In seiner jahrelangen Opposition gegen Erdogan konnte Kilicdaroglu erstmals die Bürgermeisterwahlen 2019 als Erfolg für sich verbuchen: Erdogans islamisch-konservative AKP verlor damals die Mehrheit in wichtigen Städten wie Istanbul und Ankara. Die AKP annullierte die Wahl in Istanbul - bei der Wiederholung gewann die Opposition mit noch größerem Abstand. Auf die Sorge vor Manipulation angesprochen, verweist Kilicdaroglu auf die damalige Abstimmung und sagt: "Wir werden ihnen (der Regierung) zeigen, was Demokratie bedeutet und zwar zum zweiten Mal."
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