Noch vor Jahren war die B96 als "Straße der Wut" bundesweit bekannt. Zwischen Bautzen und der im Dreiländereck gelegenen Stadt Zittau sorgten schwarz-weiß-rote Fahnen schwenkende und Parolen skandierende Wutbürger für Aufmerksamkeit, "Brown Under" wurde der Landkreis Görlitz in manchen Medien genannt. Wahlergebnisse schienen das zu rechtfertigen: 35,8 Prozent bei der letzten Landtagswahl 2021 sind bis heute AfD-Rekord.
Am 1. September 2024 wählt Sachsen erneut. Kündigt sich hier 35 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur ein "demokratisches Endspiel" an? Die Fahnenschwenker an der B96 sind verschwunden – doch geblieben ist die Wut, die sich an einem regennassen Montagabend im November in der Bautzener Innenstadt Bahn bricht. Mit ungewohnten Tönen. "Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land. Allen Menschen, groß und klein, bist du wohlbekannt", singt eine Frau mittleren Alters mit Gitarre, die dabei ein wenig an die ostdeutsche Liedermacherin und Bürgerrechtlerin Bettina Wegner erinnert.
Eine kleine Gruppe von 20 Menschen umringt die Sängerin, sie tragen eine blaue Fahne mit weißer Taube. Das Lied von der Friedenstaube kennt jeder, der in der DDR gelebt hat. 1949 von einer Kindergärtnerin aus Thüringen komponiert, scheint das Lied geradezu schicksalshaft mit Missdeutungen leben zu müssen: Einst gehörte es zum Liedgut eines Systems, das keine Skrupel hatte, Panzer gegen ostdeutsche Arbeiter und tschechoslowakische Studenten rollen zu lassen.
Ein paar Meter weiter unter dem Reichenturm auf Bautzens Kornmarkt wird an diesem Montagabend ebenfalls protestiert. Vor einer Bühne harren 250 Menschen mit Lichterketten aus, "Mahnwache für Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität" steht da in großen Lettern. Spielwarenhändler Veit Gähler lädt zum Spaziergang auf die "Bonzenrunde", um dort "mit klugen Menschen ins Gespräch zu kommen".
Welchen Gesprächsbedarf Menschen haben, die schwarz-weiß-rote Flaggen oder jene der rechts-extremen "Freien Sachsen" tragen, erschließt sich dem Zaungast nicht sofort. "Zur Erinnerung an die Opfer des Corona-Impfexperiments und der Zwangsmaßnahmen des Kretschmer-Regimes", steht auf einer Art Gedenkstein am Rande der Bühne. "Coronaverbrechen" gelte es aufzuarbeiten. Die AfD hat am Rand der Veranstaltung einen Stand aufgebaut.
Einer, der "seine Sachsen" wie kein Zweiter kennt, weil er als gebürtiger Rostocker zunächst als Pfarrer, dann als Bürgerrechtler, dann als Landrat und Landesinnenminister die Entwicklung der Region maßgeblich mitgestaltet hat, sitzt tags darauf im Café Schwerter in Zittau und trinkt einen Kakao mit Chili: Heinz Eggert. Der CDU-Politiker – einst moderierte er im Privatfernsehen den "Grünen Salon" – ist dafür bekannt, dass er gern Klartext redet.
Für seine sächsischen Wutbürger hat der 77-Jährige wenig Verständnis. Doch er versucht, ihre Motivation zu erklären: "Die Ostdeutschen haben bei aller Freude über die Demokratie eine ungeheuer schwierige und kräftezehrende Umstellungsleistung erbracht, die teilweise heute noch nicht anerkannt wird. Wenn du nicht weißt, ob das Haus, in dem du wohnst, dir auch morgen noch gehört, ob dein Beruf, in dem du seit Langem arbeitest, morgen noch anerkannt ist, ob dein Betrieb morgen noch existiert, dann macht das etwas mit dir."
Dann spannt er den Bogen zur Gegenwart. "Wenn dich Menschen ansprechen, die nie auf Pegida-Demonstrationen waren, dir aber erzählen, dass sie nicht wissen, ob ihre neue Ölheizung morgen noch erlaubt ist und die gerade ihr Häuschen abgezahlt haben, dann baut sich da Wut auf."
Wenn Eggert gegen die "Unfähigkeit" der grünen Außenministerin Annalena Baerbock wettert, ist er für den Moment Teil dieser Wutbürgerszene. Um dann im nächsten Augenblick klare Kante gegen jene zu fordern, die von der Unzufriedenheit politisch profitieren: "Ich bin gegen jede Kooperation mit der AfD, aber mich treibt die Sorge um die AfD-Wähler um. Wir dürfen nicht alle aufgeben. Mein Fokus liegt auf der Rückholung dieser Wähler, nicht auf der AfD und ihren unfähigen Parteikadern. Nachdenkenswert ist es, wenn 30 Prozent AfD wählen und politisch einflusslos bleiben. Da droht Radikalisierung", so der Mann in Lederjacke und Hoodie, der in der Gemeinde Oybin seinen "Unruhestand" genießt.
"Anders als in den 90er- und Nuller-Jahren gibt es in Ostsachsen schon so etwas wie einen politischen Aufbruch", ist Bernd Stracke überzeugt. Der 60-Jährige ist Projektleiter und Mitbegründer des in Dresden ansässigen Instituts B3, das sich mit politischer Bildung und Beratung von Vereinen und Behörden beschäftigt. "Viele Frauen und Männer in der Lokalpolitik hier repräsentieren eine neue Generation, die sich bewusst entschieden hat, hier zu bleiben, Verantwortung zu übernehmen und die Demokratie gegen extremistische Parteien zu stärken", sagt der gebürtige Leipziger, der zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen in Haft saß und 1992 in die Lausitz zog.
"Noch vor Jahren dominierten entweder Vertreter der alten Eliten oder aus dem Westen mit ‚Buschzulage‘ zugewanderte Politiker die Kommunalpolitik. Heute gibt es da viel mehr eigenes Engagement", sagt der ehemalige Punk und Sänger einer Band, die sich "L‘Attentat" nannte.
"In den 90er-Jahren war es gewalttätiger. Auch unser Haus wurde von Nazis attackiert, Fensterscheiben gingen zu Bruch, doch die sogenannten Baseballschlägerjahre gehören der Vergangenheit an", erzählt Stracke. "Heute sind rechte Ideen und rassistische Stereotype in der Breite der Gesellschaft vertreten, sie sind gesellschaftsfähiger geworden. Ausgeteilt wird vor allem verbal, auf Straßen und Plätzen oder in sozialen Netzwerken."
Dabei geht es der Region im Dreiländereck wirtschaftlich so gut wie lange nicht. Die Abwanderung ist rückläufig. Die Arbeitslosenquote liegt in der Oberlausitz bei 7,2 Prozent, Fachkräftemangel ist ein Problem. Der "Lausitz-Monitor", eine repräsentative Onlinebefragung von August 2023, besagt, dass ungefähr drei Viertel der Menschen (74 Prozent) mit ihrer persönlichen Lebenssituation zufrieden sind.
Im Rathaus der 25.000-Einwohnerstadt Zittau sitzt seit 2015 Oberbürgermeister Thomas Zenker, 48 Jahre jung. Dass er nie einer Partei beigetreten sei, begründet er mit "inhaltlichen und strategischen Gründen": "Ich finde mich inhaltlich in verschiedenen Parteiprogrammen wieder, bin politisch wohl eher im sozialliberal-grünen Umfeld unterwegs. Bei einigen Themen, zum Beispiel Kulturförderung, bin ich eher bei den Schwarzen."
Zenker entstammt einer anderen Generation als Eggert, hat in Leipzig, Paris und an der FU in Berlin studiert, dann als Unternehmer und Journalist gearbeitet und kommt gerade vom Weltkongress eines globalen Netzwerkes von Kommunen ("Strong Cities") am Rande der UN-Vollversammlung in New York zurück.
Dafür, dass die demokratischen Parteien in der ostdeutschen Provinz nie wirklich Fuß fassen konnten oder jetzt von Schwindsucht befallen sind, macht auch Zenker das verantwortlich, was Eggert mit "kräftezehrende Umstellungsleistung" umschreibt.
"Die Menschen hatten nach 1990 ganz andere Probleme, als sich in etwas zu begeben, was Politik heißt", so Zenker. "Von denen, die damals die friedliche Revolution anführten – Intellektuelle, Künstler, Pfarrer –, fanden sich später kaum welche in verantwortungsvollen Positionen wieder, sicher auch wegen ihrer Distanz zu jeglicher Form von Machtausübung", erklärt der Kommunalpolitiker.
Vor allem in hohen Verwaltungspositionen "tauchten dann schnell Auswärtige auf, die das Heft des Handelns übernahmen", so Zenker weiter. Anschließend dominierte in Sachsen jahrzehntelang die CDU – viele Menschen hatten zudem kaum Interesse am demokratischen Wettstreit. "Doch jemand musste, jemand sollte einfach diese Arbeit machen", beschreibt er seine Motivation. "In Zittau oder Löbau, wo es eine ehemalige Offiziershochschule gab, bildeten sich auch noch merkwürdige Allianzen aus CDU und zu PDS- oder Linken-Politikern gewandelten Ex-Offizieren, die teils bis heute eine Rolle spielen." Eine geradlinige Transformation in die bundesrepublikanische Demokratie gab es hier nie.
Ist es da nicht vielleicht sogar begrüßenswert, dass Menschen heute wieder ihre demokratischen Möglichkeiten ausschöpfen, sich an Straßen stellen oder über Marktplätze laufen, um ihren Unmut kundzutun oder der AfD beitreten? Zenker relativiert: "Diese sogenannte Mitbestimmung wird ja in diesem Fall ausschließlich gelebt, um sich gegen etwas zu engagieren." Er weiß, wovon er spricht: Im März 2023 stürmten Aktivisten der rechts-extremen "Freien Sachsen" gemeinsam mit aufgestachelten Einwohnern aus Protest gegen die Asylpolitik das Rathaus der Stadt. Mittlerweile wird laut Zenker "auf den Marktplätzen selbst die AfD infragestellt, weil sie vielen Unzufriedenen noch zu gemäßigt ist – was einmal mehr deutlich macht, welches Problem mit extremistischem Gedankengut da auf uns zukommt."
Und dennoch sieht Zenker noch nicht ganz so pessimistisch auf kommende Wahlen, hofft gar auf so etwas wie einen "Trump-Biden-Effekt": Ähnlich wie bei der US-Wahl 2020 könne es angesichts der Gefahr für die Demokratie auch bei den Sachsen durchaus zu einem Motivationsschub kommen. Das würden spätestens die Kommunalwahlen zeigen.
Denn wirklich etwas zu bieten habe die AfD nicht, deren strategisches Konzept sich darauf reduziert, alle Unzufriedenen einzusammeln – egal ob über Themen wie Corona-Leugnung, Nähe zu Putin oder Zuwanderung. "Und es gibt konkret und reichlich Beispiele, die klar zeigen, dass in der AfD viele Leute mitmachen, die nicht den geringsten Schimmer davon haben, was sie da eigentlich tun", so Zenker.
Der parteilose Politiker plädiert für einen "klugen Umgang mit der AfD". Er möchte "sie in politische Arbeit so einbinden, dass sie liefern müssen – anstatt sich auf Marktplätzen in eine Haltung der Totalverweigerung zu verflüchtigen". Entzauberung heißt das Stichwort. "Man muss ehrlich einräumen, dass uns die dauerhafte Verweigerungshaltung gegenüber der AfD nicht wirklich weitergebracht hat."
Daneben gibt es jene, die wild entschlossen sind, sich dieses Image vom "braunen Schandfleck Sachsen" (wie Zeitungen titelten) nicht mehr bieten zu lassen. "Ich habe eben eine Petition unterschrieben, die ein Prüfungsverfahren für ein AfD-Verbot fordert", sagt Peter Gischke (58), Rechtsanwalt aus Leipzig, der auch in Pirna eine Kanzlei betreibt. "Da die Wähler offensichtlich nicht willens sind, das Ende dieses Spuks zu besiegeln, bin ich für ein Verbot dieser Partei, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen möchte."
Versuche des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, die AfD zu bekämpfen, indem die CDU Teile der rechten Agenda absorbiert, hält der gebürtige Leipziger für fatal: "Weder durch die Übernahme von AfD-Thesen noch das Warten auf eine ‚Entzauberung‘ dieses Vereins lässt sich das Problem lösen", so Gischke. Eine "Beobachtung" durch den Verfassungsschutz hält er für überflüssig. "Was gibt es da noch zu beobachten? Jeder weiß doch, was sie wollen – also weg damit."