Dabei ist das dritte Jahr einer Regierung eigentlich ein guter Zeitraum, um noch viele Gesetze auf den Weg zu bringen. Die Regierung ist eingespielt und die nächsten Wahlen noch in sicherer Entfernung. Eigentlich.
Sicher ist für die Ampel im Jahr 2024 aber erst einmal nur: Das neue Jahr startet, wie das alte geendet hat – Streit, Misstrauen, Ratlosigkeit. Die Politik der zähen Entscheidungen und zeitraubenden Kämpfe um die Details könnte allerdings an ihre Grenzen stoßen. Die Hypothek für 2024 wiegt schwer: eine im europäischen Vergleich hohe Inflationsrate bei erneut steigenden Energiepreisen, eine von den Entscheidungsfindungen der Ampelregierung verunsicherte Bevölkerung, Unternehmen ohne Planungssicherheit, eine sanierungsbedürftige Infrastruktur, eine dramatische außenpolitische Lage. Die Geduld vieler Bürgerinnen und Bürger ist am Ende. Da sind die Umfragen eindeutig, mit denen die Ampel ins neue Jahr geht.
Für Sozialdemokraten, Grüne und Liberale sind das angesichts der 2024 anstehenden neun Kommunalwahlen, der drei Landtagswahlen und der Europawahl schlechte Aussichten. Mehr noch: Nicht nur die Ampelparteien könnten Schaden nehmen, auch die Demokratie insgesamt droht zu leiden, wenn die AfD bei den Wahlen auf allen Ebenen ihre zuletzt starken Ergebnisse fortsetzen kann. Dies gilt insbesondere in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. In allen drei Ländern könnte die vom Verfassungsschutz teils als erwiesen rechts-extrem eingestufte Partei mit mehr als 30 Prozent der Stimmen als stärkste Fraktion in die Parlamente einziehen. In allen drei Ländern stehen schwierige Regierungsbildungen bevor. In Sachsen meint die AfD gar, die absolute Mehrheit erzielen zu können.
"Erwiesen rechts-extrem" bedeutet übrigens, dass die Partei der freiheitlichen Grundordnung der Bundesrepublik feindselig gegenübersteht. Ausgerechnet: Deutschland, wie es nach dem Krieg gegründet wurde, also als demokratische, rechtsstaatliche, föderale Republik, wird am 5. Mai 75 Jahre alt. Der alten Dame steht ein nicht ungetrübtes Jubiläumsjahr bevor: Die Eroberungen von Landratsämtern und Rathäusern durch die AfD, wie sie erstmals 2023 geschahen, dürften nur ein Vorgeschmack auf die Ergebnisse der vielen Kommunalwahlen 2024 gewesen sein.
Die Europawahl am 9. Juni funktioniert nach anderen Gesetzen. Wobei es bei der Wahl zum Europaparlament noch weniger um konkrete Sachfragen geht als bei nationalen, regionalen oder kommunalen Wahlen. So ist die Abstimmung über Europa vor allem ein Stimmungstest und auch eine Personenwahl. Die bisherige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wird voraussichtlich für die konservative EVP antreten, ohne ein eigenes Mandat im EU-Parlament anzustreben. Die CDU-Politikerin will aber gerne Kommissionschefin bleiben.
Der sonst abstrakte Europawahlkampf könnte in Deutschland weiblich, kontrovers und schillernd werden. Neben von der Leyen wird die deutsche Bühne von der streitlustigen FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bespielt. Das Bündnis Sahra Wagenknecht will mit 20 Leuten antreten – gleichwohl die Namensgeberin voraussichtlich selbst nicht auf der Liste stehen wird. Die Sozialdemokraten schicken erneut die frühere Justizministerin Katarina Barley ins Rennen. Die Grünen haben Terry Reinke vom linken Parteiflügel zur Spitzenkandidatin gemacht. Von der AfD hat sich Maximilian Krah aufstellen lassen, der bisher vor allem mit sehr kuriosen Tiktok-Videos auf sich aufmerksam gemacht hat, in denen er jungen Männern Tipps gibt, wie sie eine Freundin finden.
Mehr europäischen Spirit als der EU-Wahlkampf könnte kurz nach der Europawahl die Fußball-EM vom 14. Juni bis zum 14. Juli auslösen. Zuletzt machte der deutsche Fußball allerdings einen ähnlich schlecht aufgestellten Eindruck wie die Bundesregierung. Es wäre der Republik nur zu wünschen, dass eine Neuauflage des Sommermärchens der WM von 2006 die Menschen von den vielen ökonomischen und innenpolitischen Problemen sowie von der dramatischen internationalen Lage ein wenig ablenkt.
Denn es steht zu befürchten, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine auch im dritten Jahr in aller Härte andauern wird. Nach Einschätzung vieler Experten wird es im neuen Jahr voraussichtlich nicht mehr darum gehen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Sie kämpft inzwischen darum, den Krieg gegen Russland nicht zu verlieren. Während Russland seine Kriegswirtschaft kreditfinanziert auf Hochlauf gebracht hat, "döst Europa vor sich hin", wie es im Dezember mal ein führender Ampelpolitiker hinter vorgehaltener Hand formuliert hat. Zentral für das Schicksal der Ukraine wird die Frage sein, wer künftig die USA führt. Sollte Trump trotz der aktuellen juristischen Auseinandersetzungen um seine Kandidatur die Präsidentschaftswahl am 5. November gewinnen, droht ein Ende der finanziellen und militärischen Unterstützung durch die USA.
Ein Rückzug der USA aus der Hilfe für die Ukraine und aus weiterer internationaler Verantwortung könnte unter einem Präsidenten Trump ganz Europa in seinen Grundfesten treffen. Sollten die Amerikaner beispielsweise ihre Verpflichtungen innerhalb der Nato nicht mehr erfüllen wollen, wäre das für Europa sehr gefährlich. Die Amerikaner sind Garant der Schlagkraft der Nato, die 2024 übrigens auch 75 Jahre alt wird. Der russische Präsident Putin wartet nur auf eine Gelegenheit, in der die Schutzmacht der europäischen Nato-Staaten ausfällt. Zuletzt drohte Putin dem neuen Nato-Staat Finnland mit "Problemen", das eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt und zum eigenen Schutz dem US-Militär Zugang zu finnischen Stützpunkten geben will. Putin wiederum will nun nahe der Grenze vermehrt russische Einheiten stationieren.
Auch Lettland muss sich sehr konkret vor Russland fürchten. Zuletzt warf Putin den Letten vor, die russischstämmige Bevölkerung dort wie "Schweine" zu behandeln und drohte unverhohlen mit Vergeltung.
In einem solchen Fall müsste Deutschland nicht mehr über die Schuldenbremse diskutieren. Denn dann sind so hohe Ausgaben für die Verteidigung notwendig, dass dies jede bisherige Budgetplanung sprengen wird.
Die Möglichkeit, dass es so kommt, sollte man nicht unterschätzen. Auf die Frage eines TV-Moderators, ob er ein Diktator werde, antwortete Trump: "Nein, nein, nein – außer an Tag eins." Sollte er verlieren und eine Niederlage abermals politisch instrumentalisieren, könnte die USA wiederum durch innere Unruhen außenpolitisch geschwächt werden. Mit ihren Prozessen um Trump, den Vorwahlen, den Nominierungen für die Präsidentschaftswahlen, den großen Parteitagen, dem Wahltag und seinen Folgen werden die Amerikaner ihre Verbündeten jedenfalls das ganze Jahr über in Atem halten.
Und dann verfinstert sich auch noch die Sonne auf dem amerikanischen Kontinent. Im Norden Mexikos sowie im US-Bundesstaat Texas und im Osten der USA wird sich der wissenschaftlichen Prognose zufolge am Morgen des 8. April 2024 eine rund vier Minuten dauernde Sonnenfinsternis zeigen. In Wahrheit für die Menschen vor Ort eine gute Nachricht: Die Hotels in den entsprechenden Regionen sind jedenfalls schon ausgebucht.
Die Momente der Leichtigkeit werden 2024 nicht üppig gesät sein. Im Nahen Osten wird der Krieg Israels gegen die Hamas im besten Falle nicht das ganze nächste Jahr andauern. Die Region dort wird aber so oder so ein Pulverfass bleiben. Der Hass zwischen Israel und weiten Teilen der arabischen Welt wird wohl auch in Zukunft große Zerstörungskraft entfalten. Der Kampf um die Sicherheit der Handelsschiffe im Roten Meer ist da nur ein Vorbote.
Bislang waren die außenpolitischen Sorgen noch nicht groß genug, dass sich Deutschland von seinem innenpolitischen Klein-Klein verabschiedet hätte. Sollte das auch 2024 der Fall sein, wird man im Herbst zur Tüte Popcorn greifen und der Union bei ihrer Suche nach einem Kanzlerkandidaten zuschauen können. Seit zwei Jahren verspricht CDU-Parteichef Friedrich Merz, dass diese Nominierung weniger schlimm werden soll als 2021. Damals kam es zum Machtkampf zwischen CDU und CSU, den die Bayern verloren. CSU-Chef Markus Söder revanchierte sich mit anhaltenden Sticheleien gegen den gemeinsamen Kanzlerkandidaten Armin Laschet. Einen Plan oder gar ein geordnetes Nominierungsverfahren, wie die Kür ohne großen Streit über die Bühne gehen soll, gibt es bislang nicht. Die wahrscheinlichste Lösung ist, dass Merz Kanzlerkandidat wird und Söder erneut stichelt.
Von der christlichen Union zur katholischen Kirche: Diese will 2024 in Rom Geschichte schreiben. Bei der Weltsynode im Oktober haben erstmals auch Frauen Stimmrecht. Ob das Kirchenvolk am Ende tatsächlich mehr Einfluss bekommt, wie seit Jahrzehnten von der Basis gefordert, ist allerdings offen.
In Gottes Hand ist man bekanntlich vor Gericht und auf hoher See. An den ständig hohen Wellenschlag, der das Boot Ampelregierung zum Kentern bringen kann, hat man sich in Berlin gewöhnt. Wenn aber die Verfassungsrichterinnen und -richter ihre roten Roben anlegen, herrscht in Berlin inzwischen Alarmstimmung.
Auch 2024 könnte es zu einem wegweisenden Urteil kommen, das den politischen Betrieb erneut in Turbulenzen stürzt. Anhängig ist Karlsruhe das Verfahren zur Klage der Union gegen das von der Ampelregierung beschlossene neue Wahlrecht. Es sieht unter anderem eine Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel vor, die wiederum der CSU den Einzug in den Bundestag sichert. Das könnte neue Unsicherheiten schaffen. Denn nach welchem Wahlrecht 2025 ein neues Parlament bestimmt wird, sollte aus organisatorischen Gründen und aus staatspolitischer Erwägung mindestens ein Jahr vorher klar sein.