Heute weiß Lopatkina: Nach ihrem Einmarsch in Mariupol verschleppten russische Besatzungsbeamte mit Hilfe der Armee ihre Kinder zusammen mit anderen Minderjährigen aus dem Erholungslager ins besetzte Donezk. Dort wurden sie in einer Klinik für Tuberkulosekranke untergebracht. "Die Zustände waren furchtbar", sagt sie. Die Verpflegung sei teilweise so schlecht gewesen, dass die Kinder nachts Essen stehlen hätten mussten. Und es sei ein Wunder, dass niemand von ihnen sich mit Tuberkulose angesteckt habe, sagt Lopatkina.
Die Verhandlungen zwischen der in der Zwischenzeit in die EU geflohenen Ziehmutter mit örtlichen Besatzungsbeamten zur Rückgabe ihrer Kinder aus Donezk dauerten mehrere Monate - was auch aus von ihr vorgezeigten Dokumenten hervorgeht. Dabei stemmte sich nach Lopatkinas Darstellung vor allem die lokale "Kinderbeauftragte" der Besatzer vehement gegen die Rückführung der Kinder. Erst im Juni 2022 - als die Funktionärin kurzzeitig verreiste - hätten andere Beamte der Freigabe der Kinder zugestimmt. Mit Hilfe einer ukrainischen Hilfsorganisation und einer lokalen Helferin konnten die Kinder schließlich in Donezk abgeholt werden. In Berlin wurden sie mit ihrer Ziehmutter wiedervereint. Heute lebt die Familie in Frankreich.
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch haben im Laufe des Krieges immer wieder die Verschleppung ukrainischer Minderjähriger auf russisches Staatsgebiet beklagt. Teils handelte es sich demnach um Waisenkinder, die von den Besatzern in das von Moskau kontrollierte Gebiet gebracht wurden. Teils wurden Eltern nach Angaben der ukrainischen Kinderrechtsbeauftragten, Darja Herassymtschuk, von den Russen überredet, ihre Kinder in ein Ferienlager nach Russland zu schicken. Die Minderjährigen sollen danach nicht mehr zurückgekehrt sein.
Im September warf der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der UN-Generaldebatte in New York Russland einen Völkermord an der Ukraine durch "massenhafte Entführung und Verschleppung" von Kindern vor. Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag hat wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im vergangenen März Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen.
Russland weist die Vorwürfe einer gewaltsamen Verschleppung und gezielten "Entukrainisierung" der Mädchen und Jungen kategorisch zurück und betont vielmehr immer wieder, sie würden lediglich vor der Gewalt im Kriegsgebiet geschützt. Und Moskaus Behörden betonen auch, dass im Fall von Trennungen Kinder stets mit ihren Familien zusammengeführt würden.
Trotz dieser Behauptungen bleibt Lopatkinas Beispiel eine viel zu seltene Erfolgsgeschichte. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges identifizierte die ukrainische Regierung zum Stand Oktober 2023 knapp 20.000 Kinder, die nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete der Ukraine gebracht worden seien. Knapp 4000 von ihnen seien Kinder ohne elterliche Fürsorge und Waisen. Die Dunkelziffer wird dabei von der Regierung noch deutlich höher geschätzt. Von allen Verschleppten konnten bisher lediglich 386 Kinder nach ukrainischen Regierungsangaben zurückgeholt werden. So berichtete die Militärverwaltung der südukrainischen Region Cherson in der zweiten Novemberwoche über drei zurückgeführte Minderjährige.
Anastasija Chaliulowa war für einen Teil dieser Rückholungen verantwortlich. Die Mitarbeiterin von SOS-Kinderdörfer in der Ukraine half seit Kriegsbeginn Familien bei der Rückführung ihrer Kinder aus russischen Einrichtungen. Dafür forschten sie und ihr Team nach dem Verbleib der Minderjährigen, suchten nach Familienmitgliedern und stellten die Kommunikation mit russischen Institutionen her.
Es koste rund 500 Euro, um ein verschlepptes Kind aus Russland wieder zurückzubringen, sagt Chaliulowa. In der Summe seien jedoch nur die Ausstellung der nötigen Dokumente des Kindes sowie seine Reise- und Verpflegungskosten in eine Richtung enthalten. Die Kosten für die Begleitperson, die das Kind abholen und zurückführen muss, verdoppeln oder verdreifachen diese Summe meist. Bevor ein Kind zurückgeholt werden kann, müssen zudem langwierige Verhandlungen mit der russischen Seite geführt werden. Wie im Fall der Familie von Olha Lopatkina hänge vieles von der Gunst der Stunde und dem jeweiligen russischen Funktionär vor Ort ab, sagt Chaliulowa.
Die besetzte ostukrainische Industriestadt Donezk, in der auch Lopatkinas Kinder waren, soll eine Schlüsselrolle spielen. Der ukrainischen Investigativjournalistin Olesja Bida zufolge soll es allein in Donezk und Umgebung neun Krankenhäuser geben, in denen ukrainische Minderjährige festgehalten wurden, bevor man sie weiter "verteilt" hätte. Manche von ihnen kamen nach Bidas Angaben in Heime oder zu Adoptiveltern nach Russland, manche blieben in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten. Auch Lopatkinas Kinder berichteten von Jungen und Mädchen, die aus Donezk in die russische Stadt Rostow am Don gebracht worden seien.
Aus den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk, die Russland zu großen Teilen völkerrechtswidrig annektiert hat, kommen nach Angaben von Bida und der "War Crimes Investigation Unit" der englischsprachigen ukrainischen Online-Zeitung Kyiv Independent auch die meisten verschleppten Kinder. Bei einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin erinnert die Journalistin daran, dass der Krieg dort bereits 2014 mit dem Auftauchen von vom Kreml kontrollierten Kämpfern begann. Auch unmittelbar vor Beginn des großen Angriffskrieges 2022 habe es Berichte über die Wegbringung von Kindern hinter die russische Grenze gegeben, sagt Bida.
Russische Medien zeigten die Bilder damals und begründeten die Aktion damit, dass die Menschen vor den ukrainischen Angriffen in Sicherheit gebracht werden sollen. Derweil erschwert Russland laut Kiews Kinderrechtsbeauftragter Herassymtschuk aktiv die Suche nach den Minderjährigen. "Sie nehmen den Kindern sofort die Telefone weg und erlauben ihnen nicht, ihren Aufenthaltsort zu melden. Es ist sehr schwierig, das Kind zu finden. (...) Sobald wir etwas über den Aufenthaltsort der Kinder erfahren, werden sie in einen anderen Teil Russlands verlegt", sagte sie auf einer Konferenz im Oktober.
Der ehemalige ukrainische Ombudsmann für Kinderfragen, Mykola Kuleba, leitet die Hilfsorganisation "Save Ukraine", die ukrainischen Medien zufolge inzwischen mehr als 100 Kinder aus Russland zurückholte. In der Investigativdokumentation "Uprooted" (Deutsch: entwurzelt) des Kyiv Independent machte Kuleba seine Sicht auf den Grund für die fehlende Kooperation der Russen deutlich: "Jedes zurückgekehrte Kind ist Zeuge eines Kriegsverbrechens".