Aus den Parlamentswahlen am 15. Oktober war zwar die bisher regierende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) als stärkste Kraft hervorgegangen, hatte aber ihre Regierungsmehrheit verloren und nur 194 von 460 möglichen Sitzen erreicht. Weil der potenzielle Koalitionspartner, die rechtsextreme Konfederacja, entgegen allen vorherigen Prognosen auch schlechter abschnitt und nur 18 Sitze holte, bekommt die PiS bislang keine Koalitionsmehrheit im Parlament, dem Sejm, zusammen.
Favorit für eine Regierungsbildung ist daher der bisherige Oppositionsführer Donald Tusk, der schon einmal von 2007 bis 2014 Ministerpräsident war. Seine liberalkonservative Bürgerkoalition (KO) war bei der Wahl zweitstärkste Kraft geworden. Sie hatte sich aber schon zuvor mit zwei weiteren Oppositionsparteien, dem konservativen Dritten Weg und dem Linksbündnis Lewica auf ein Drei-Parteien-Bündnis verständigt, das nun zusammen auf 248 Sitze im Parlament kommt und damit eine ausreichende Mehrheit besitzt.
Dennoch sieht Polens Präsident Andrzej Duda, dem nach der polnischen Verfassung das Recht zukommt, eine Person mit der Regierungsbildung zu beauftragen, "zwei ernsthafte Kandidaten" für das Amt des neuen Regierungschefs. Nämlich den bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki von der PiS und Oppositionsführer Tusk.
Die Tageszeitung "Rzeczpospolita" kritisiert Dudas Angang als Verzögerungstaktik zugunsten der PiS, der Duda seine Präsidentschaft verdankt. Seit seiner Direktwahl 2015 lässt Duda zwar seine PiS-Mitgliedschaft ruhen, gilt aber als linientreuer Verfechter der Parteipolitik und wird im Volksmund "Dlugopis" ("Kugelschreiber") genannt, weil er bislang quasi jedes Gesetz unterzeichnet hat, das ihm von der nationalkonservativen Regierung vorgelegt wurde.
Duda sagte dem regierungsnahen Fernsehsender TVP Info, Polen befände sich "in einer verfassungsrechtlich sehr stabilen Zeit". Es gebe daher keinen Grund, die noch bis Mitte November laufende Amtszeit des gegenwärtigen Parlaments vorzeitig zu beenden. Maximal 30 Tage nach der Wahl, am 13. November, soll das neu gewählte Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen, und ab dann hat Duda maximal zwei Wochen Zeit, jemanden zum Ministerpräsidenten zu ernennen und mit der Regierungsbildung zu beauftragen.
Politische Beobachter in Warschau halten es durchaus für möglich, dass Duda noch einmal Morawiecki, damit betraut, der bei Einigkeit der Opposition im Parlament keine Mehrheit finden und bei einer Vertrauensfrage scheitern wird. "Vielleicht braucht die PiS dieses Szenario, um sich den Wahlverlust noch einmal klar vor Augen zu führen und den Grundstein für einen Neuanfang zu legen", sagt David Gregosz, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau.
Wenn es so kommen sollte, wäre Dudas Mission in der Sache beendet und das Parlament hätte dann selbst noch einmal 14 Tage Zeit, um einen Ministerpräsidenten zu wählen, wofür eine absolute Mehrheit von 231 Stimmen nötig ist, was für das oppositionelle Bündnis mit seinen 248 Sitzen bequem zu schaffen wäre. Nach der Ernennung des Premiers durch den Präsidenten kann der neue Regierungschef dann sein Kabinett zusammenstellen und die Fachminister berufen. Das alles könnte noch vor Weinachten unter Dach und Fach sein.
Schwierig wird es, wenn es zu Streitereien im Drei-Parteien-Bündnis zu inhaltlichen oder personellen Fragen kommt oder wenn die PiS noch mit weiteren Verzögerungstaktiken aufwartet. Dann drohen im schlimmsten Fall Neuwahlen. Aber auch wenn alles glattgeht, wird die neue Regierung mit Duda weiterhin einen gewissen Klotz am Bein haben, denn in Polen muss jedes neue Gesetz von ihm unterzeichnet werden.
"Jedes Gesetz ist mit einem Vetorecht des Präsidenten versehen, und man muss davon ausgehen, dass er davon Gebrauch machen wird", sagt Politologe Gregosz und verweist darauf, dass die neue Regierung vor "Herkulesaufgaben" steht. Zum einen muss sie noch bis Ende 2023 den Haushalt für 2024 beschließen. "Wenn das nicht geschieht, dann kann Duda das Parlament auflösen und es käme zu Neuwahlen."
Als Zweites muss die neue Regierung nach Gregosz’ Einschätzung das Thema der Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angehen, um an Milliarden heranzukommen, die derzeit in Brüssel blockiert sind, weil Polen aus Sicht der EU gegen gemeinsame europäische Werte verstößt. Und als Drittes müssten regierungsnahe Medien, wie TVP Info, wieder in öffentlich-rechtliche oder private Gesellschaften überführt werden, die streng zu Neutralität verpflichtet sind, sagt Gregosz.
Das seien große und schwierige Aufgaben, die alle in relativ kurzer Zeit gelöst werden müssten und Verzögerungen überhaupt nicht gebrauchen könnten. Auch wenn Kritiker davon ausgehen, dass Duda als PiS-Loyalist die Zeit, die er als Präsident hat, vermutlich vollkommen ausschöpfen wird, so müsste am Ende dennoch auch bei ihm eigentlich die Vernunft siegen, sagt Gregosz. "Er ist mit seinen 51 Jahren noch nicht so alt, und seine Amtszeit endet 2025. Wenn er jetzt alles blockiert, dann muss er sich fragen, welche Zukunft er danach noch hat."