Die Russen wurden von dem Vorstoß offenbar regelrecht überrascht, wie Andriy Chernyak vom ukrainischen Militärgeheimdienst dem ukrainischen Nachrichtenportal Liga sagte. "Jetzt sehen wir, dass die Russen wegen der Vorstöße ukrainischer Einheiten am linken Ufer in Panik geraten." Der Gegner würde seine Kräfte zusammenziehen und versuchen, zusätzliche Verbände in die Gegend zu verlegen. Dabei ist die russische Armee bereits mit eigenen Spezialeinheiten der Marine vor Ort.
Die Operationen des ukrainischen Militärs am Ostufer des Dnipro sind vor allem Achtungserfolge, wie der erste Vorstoßauf Cherson letztes Jahr. Die Ukraine versucht so insbesondere, russische Truppen an einem zweiten Gefechtsfeld zu binden und abzunutzen. Mit den Angriffen ganz im Westen der Front könnte sie die Russen zwingen, einige Einheiten bei Robotyne abzuziehen. Dort hatten ukrainische Kräfte vor Monaten eine Gegenoffensive begonnen, die aber ohne größere Gebietsgewinne zum Stillstand gekommen ist.
Inzwischen hat das ukrainische Militär mindestens drei Brückenköpfe nordöstlich der Stadt Cherson errichtet. Einer befindet sich im Bereich der Stadt Krynky, ein weiterer entlang einer wichtigen Brücke für den Autoverkehr und der dritte südlich einer Eisenbahnbrücke. In den vergangenen Tagen hat Russland die Brücken immer wieder unter Beschuss genommen. Aufnahmen aus der Gegend zeigen auch, dass die Russen unter anderem thermobarische Flammenwerfer vom Typ TOS-1A einsetzen. Die abgefeuerten Vakuumraketen verteilen eine aerosolförmige Substanz, die dann entzündet wird und der Luft den Sauerstoff entzieht. Das dadurch entstehende Vakuum sieht wie eine extrem starke Schockwelle aus, kann Gebäude zerschmettern und tödliche Verletzungen der inneren Organe verursachen. Die ukrainischen Streitkräfte versuchen, mit Drohnen die Flammenwerfer zu zerstören.
Trotz der russischen Gegenschläge konnte die Ukraine nach eigenen Angaben die russischen Kräfte offenbar bis zu acht Kilometer zurückdrängen. Moskau dementierte die Angaben der ukrainischen Armee. "Kein Versuch der ukrainischen Streitkräfte einer Landeoperation im Raum Cherson hatte Erfolg", behauptete Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Dienstag, obwohl geolokalisierte Bilder und Videos dies bereits bestätigt hatten.
Wenn die ukrainische Armee ihren Vorstoß ausbaut, könnte sie mit mechanisierten Verbänden eine neue Angriffsachse eröffnen und weiter in Richtung Schwarzes Meer und Krim vordringen. Militärstratege Masuhr hält dies aber derzeit für sehr unwahrscheinlich. "Der Dnipro stellt ein gewaltiges logistisches Hindernis dar, und die Ukraine kann schweres Gerät nicht in großer Zahl über den Fluss bringen", erklärt er. Panzer und andere schwere Waffen waren auf verifizierten Bildern und Videos bisher nicht zu sehen. Dafür sind die Brückenköpfe offenbar nicht belastbar genug. Masuhr rechnet damit, dass die Ukraine auf absehbare Zeit weiter mit leichter, spezialisierter Infanterie vorgehen wird, unterstützt durch Drohnen und Artillerie.
Seiner Einschätzung nach verfolgt Kiew mit den Angriffen am Dnipro wahrscheinlich die Strategie, die russischen Mittel zur Luftverteidigung und zu elektronischer Kriegsführung im Süden zu schwächen und abzunutzen. "Dadurch werden auch die Luftverteidigungsfähigkeiten auf der Krim geschwächt", sagen Analysten. Bereits im Sommer hatten ukrainische Spezialeinheiten immer wieder Operationen entlang des Dnipro begonnen. Zuletzt nahmen die Angriffe zur Rückeroberung des von Russland besetzten Gebietes dort zu.