Aus Sicht des Diplomaten deutet zudem nichts auf eine mögliche Ablösung Putins hin. Mit Putins Wiederwahl sei zu rechnen, sagte Lambsdorff. Bruchlinien im System Putin erkenne er "derzeit nicht". Auch habe er "keinerlei Hinweis darauf erkennen" können, dass es dem Kreml-Chef gesundheitlich "nicht gut gehen könnte".
Weitere verschärfte EU-Sanktionen gegen Moskau hält der deutsche Botschafter "nachweislich" für wirksam. Sanktionen seien "kein Lichtschalter", sagte Lambsdorff. "Man knipst nicht eine Sanktion an und ändert damit im selben Moment das Verhalten der sanktionierten Seite." Sanktionen seien dazu da, "die Kosten für ein bestimmtes Verhalten in die Höhe zu treiben. Und das passiert nachweislich".
In der russischen Bevölkerung stellte Lambsdorff ein vorsichtiges Abrücken vom Krieg fest. "In der normalen Bevölkerung gibt es eher eine diffuse Friedenssehnsucht", sagte der deutsche Diplomat. Umfragen zeigten, "dass der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität sehr stark" sei. Viele Menschen störten sich an der Inflation und den wegen der Sanktionen eingeschränkten Reisemöglichkeiten.
Von den großen Städten werde der Krieg weitgehend ferngehalten und eine Illusion von Normalität aufrechterhalten. In Moskau "wird zwar auf Plakaten um Freiwillige für die Armee geworben. Aber die Restaurants und Museen sind geöffnet, es gibt Ballett- und Opernvorstellungen". Der wichtigste Unterschied seien die Drohnenangriffe. Man könne nicht sicher, ob nachts etwas passiert. "Regelmäßig müssen die Moskauer Flughäfen für ein paar Stunden schließen, und es gibt auch Treffer in der Stadt. Das beeinträchtigt das Leben auch in der Hauptstadt", sagte er.
Auf dem Land gebe ebenfalls die Plakate mit Werbung für Dienst in den Streitkräften, aber mit konkreten Gehältern und Unterzeichnungsprämien. Wer sich verpflichtet, dem werden pro Monat 2000 Euro versprochen – das ist deutlich mehr als der Mindestlohn von etwa 130 Euro.
Der frühere FDP-Außenpolitiker Lambsdorff hatte sein Amt im August angetreten. Der Botschafterposten in Moskau gilt derzeit als einer der schwierigsten, den das Auswärtige Amt zu vergeben hat. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten Russland und Deutschland gegenseitig mehrfach diplomatisches Personal ausgewiesen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern sind auf einem Tiefpunkt.