Inzwischen soll Aminis Vater laut Menschenrechtsaktivisten wieder auf freiem Fuß sein. Nach seiner kurzzeitigen Festnahme am ersten Todestag der Protestikone durch IRGC-Einheiten sei er wieder nach Hause gebracht worden, berichtete die in Paris ansässige Gruppe Kurdistan Human Rights Network am Samstag auf X, ehemals Twitter. Zuvor hatte die in Norwegen ansässige Menschenrechtsorganisation Hengaw die Festnahme gemeldet. Irans Staatsmedien wiesen die Nachricht anschließend als "Falschmeldung" zurück. Die staatliche Nachrichtenagentur IRNA berichtete unter Berufung auf "informierte Kreise", dass Aminis Vater zu Hause sei. Laut den kurdischen Aktivisten wurde der Mann für kurze Zeit verhört. Aminis Familie soll bereits in den vergangenen Wochen eingeschüchtert worden sein.
Amnesty International verlangt "Handhabe gegen die im Iran herrschende systemische Straflosigkeit"
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte die internationale Gemeinschaft auf, "eine Handhabe gegen die im Iran herrschende systemische Straflosigkeit" zu finden. Staatsbedienstete, die sich an rechtswidrigen Tötungen und Folter beteiligt hätten, müssten zur Verantwortung gezogen werden. Seit dem Anfang der Proteste vor einem Jahr seien mindestens sieben Menschen hingerichtet, Hunderte getötet und Zehntausende willkürlich festgenommen worden – Folter sei an der Tagesordnung, so Amnesty International. Sogar Kinder, die mit den Protesten in Verbindung gebracht werden, seien Mord, Folter und Missbrauch durch Sicherheitskräfte ausgeliefert.
Die Menschenrechtsorganisation schätzt, dass Tausende Kinder unter den Verhafteten gewesen sein könnten. "Genauere Zahlen sind oft nur schwer zu bekommen. Denn wer bekannt macht, gefoltert worden zu sein, muss mit weiteren Schikanen und Inhaftierungen rechnen", so der Iran-Experte bei Amnesty International in Deutschland, Dieter Karg. Nach dem Tod Aminis kam es zu ersten Protesten in den Kurdenregionen, sie verbreiteten sich binnen kürzester Zeit im Land. Zunächst richteten sie sich gegen den Kopftuchzwang, später gegen das gesamte islamische System. Viele, die bis dahin nie auf die Straße gegangen waren, beteiligten sich an den Protesten. Der Slogan der Bewegung ist auch in Deutschland an vielen Orten zu lesen und zu hören: "Jin, Jiyan, Azadî" auf Kurdisch, später auch "Zan, Zendegi, Azadi" auf Farsi. Auf Deutsch heißt das "Frau, Leben, Freiheit".
Nach den Protesten deutete Irans Hardliner-Präsident Ebrahim Raisi im Dezember vorigen Jahres die Auflösung der gefürchteten Sittenpolizei an. Danach waren die sichtbaren Proteste im Land ruhiger geworden. Doch im Juli kündigte ein Sprecher der iranischen Sicherheitskräfte die Rückkehr der Sittenpolizei an – und dass die Kopftuchpflicht noch strenger kontrolliert werden solle. Auch Überwachungstechnik und künstliche Intelligenz sollen dabei zum Einsatz kommen.
Und es kommt noch härter: Vor wenigen Wochen billigte eine Kommission des iranischen Parlaments eine weitere Verschärfung des Strafrechts bei Verstößen gegen die angebliche "islamische Kleiderordnung". Haftstrafen bis zu 15 Jahren sind demnach möglich. Bis das Gesetz in Kraft tritt, sind weitere Schritte im Gesetzgebungsverfahren nötig. Zum Jahrestag der Beerdigung von Jina Mahsa Amini am 16. September rechnen Expertinnen und Experten mit verstärkten Protesten.
Mit strengen Sicherheitsvorkehrungen in den Kurdengebieten versucht der iranische Machtapparat neue Straßenproteste am Todestag der Widerstandsikone Jina Mahsa Amini zu verhindern. Augenzeugen berichteten am Freitag, Militäreinheiten und andere Einsatzkräfte seien in Städte rund um Aminis Heimatort Saghes verlegt worden. Auch viele neue Überwachungskameras seien installiert worden. Bewohner der Kurdengebiete sprachen zudem von verstärkten Kontrollen.
Amnesty International wirft ein Jahr nach dem Beginn der Proteste im Iran den Behörden völkerrechtliche Verbrechen vor: "Die iranischen Behörden haben im vergangenen Jahr unsägliche Grausamkeiten gegen Menschen im Iran verübt, die sich mutig gegen jahrzehntelange Unterdrückung und Ungleichheit gewehrt haben", so Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, laut einer am Mittwoch veröffentlichten Mitteilung.
Nach wie vor gebe es Staaten mit engen Wirtschaftsbeziehungen in den Iran. "Die Bundesregierung sollte auf andere Staaten einwirken, das Weltrechtsprinzip anzuwenden sowie in den Wirtschaftsbeziehungen den Export von Produkten nicht zu genehmigen, die der Iran zu Menschenrechtsverletzungen nutzt, wie zum Beispiel Überwachungstechnologie", fordert Karg. Nach dem Weltrechtsprinzip ist es Staaten erlaubt, gegen Verbrechen gegen das Völkerrecht vorzugehen, auch wenn sie im Ausland begangen wurden und keinen Bezug zum Inland haben.
Etliche Staaten verurteilten den Iran wegen des brutalen Vorgehens. Die EU verhängte eine Liste von Strafmaßnahmen gegen Personen und Einrichtungen, denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Vermögenswerte wurden eingefroren, Einreiseverbote in die EU ausgesprochen. Eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats forderte die Regierung auf, Hinrichtungen von verurteilten Protestierenden aufzuhalten und Menschen freizulassen, die friedlich an den Demonstrationen teilgenommen hätten.
Ein Einlenken des Regimes ist laut dem Iran-Experten Karg jedoch nicht festzustellen: "Es ist überhaupt nicht zu erkennen, dass der Iran irgendwie auf die Staatengemeinschaft zugeht. Es finden keinerlei Untersuchungen von Vergehen der Sicherheitskräfte statt. Auch viele inhaftierte Doppelstaatler und Doppelstaatlerinnen werden nicht aus der Haft entlassen." Stattdessen suche der Iran zunehmend den Schulterschluss mit Staaten, "die international geächtet sind, wie zum Beispiel Russland".
ag/pcl