Am 3. Mai begann in dem Westbalkan-Land jäh eine neue politische Zeitrechnung. An einer Belgrader Schule hatte ein 13-Jähriger das Feuer auf seine Mitschüler eröffnet, nachdem er zuvor bereits einen Wachmann erschossen hatte. Keine 48 Stunden später erschütterte ein zweiter Amoklauf das Land. Insgesamt 18 Menschen starben. Infolge kam es zu Massenprotesten. Fast wöchentlich gingen die Menschen in Belgrad und anderen Städten unter dem Banner "Serbien gegen Gewalt" auf die Straße. Sie protestierten gegen die regierungstreuen Boulevardsender, die neben politischer Propaganda von Vergewaltigung bis Prügel Berichte über die ganze Gewaltpalette ausstrahlen.
"Die beiden Attentate haben unsere Gesellschaft polarisiert", sagt Igor Bandovic, Direktor des Belgrader Zentrums für Sicherheitspolitik (BCSP). Er unterstellt Vucics Regierung "Nachlässigkeit". Über Jahre hätte sie den Unmut der Bevölkerung und organisiertes Verbrechen ignoriert; die Gerichte ließen Täter straffrei davonkommen. Jedoch habe der Aufschrei laut Bandovic Serbiens Politik verändert. "Es ist das erste Mal, dass sich pro-demokratische Oppositionsparteien zusammenschließen und so viele Organisationen den Forderungen der Demonstranten folgen."
Aus der Bürgerbewegung "Serbien gegen Gewalt" ist inzwischen eine Parteienkoalition erwachsen. Prognosen räumen ihr bei den Parlamentswahlen den zweiten Platz ein. Bei den gleichzeitigen Kommunalwahlen in Belgrad hat die proeuropäische Allianz sogar Chancen auf das Bürgermeisteramt. "Uns geht es nicht in erster Linie darum, die Macht von der SNS zu übernehmen. Es geht darum, wie wir danach weitermachen", erzählt Jelena Jerinic. Die Parlamentsabgeordnete ist Mutter von zwei Teenagern. "Es bereitet mir Sorge, dass sie in einem Land wie diesem aufwachsen."
Vucic wehrt sich gegen die Vorwürfe. Er bezeichnet die neue Opposition als "endlos heuchlerisch". Fest steht: Der Zweimetermann mit Hornbrille polarisiert das Land seit seinem Einzug ins Parlament 1993. Dem sozialistischen Despoten Slobodan Milosevic diente er als Propagandaminister. Und auf den Straßen mobilisierte er die Massen für später verurteilte Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic. 2017, vom Jugoslawien-Regime geläutert, wurde er in Serbien zum Präsidenten gewählt.
Auch geopolitisch schafft er einen Spagat, der in vielen Augen skurril anmutet: Als EU-Beitrittskandidat unterhält Serbien beste Beziehungen zu Peking und Moskau. Diese Freundschaft gilt ebenso als Stolperstein auf dem Weg in die EU wie der schwelende Konflikt mit dem Nachbarland Kosovo. Serbien betrachtet dieses auch nach Ausrufung der Unabhängigkeit 2008 als sein Territorium. Und dann ist da noch die Korruption: Immer schärfer fallen die Berichte des Europaparlaments und der EU-Kommission über Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in Serbien aus.
Sofija Todorovic ist Leiterin der Kampagne Youth Initiative for Human Rights (YIHR). Mit Sorge beobachtet sie, wie immer mehr junge, gut ausgebildete Serben nach Wien, Zürich oder Berlin gehen. "Die aktivsten Mitglieder unserer Gesellschaft verlassen uns, weil sie ihre Zukunft im Westen sehen. Und ich kann sie dafür nicht verurteilen." Wer bleibt, drohe Opfer nicht nur von Vucics Propaganda zu werden. Nach wie vor aktiv und stimmenstark ist auch die Sozialistische Partei Serbiens (SPS). Sie setzt auf Jugoslawien-Nostalgie und schickt am Sonntag auch den Enkel des ehemaligen Despoten, Marko Milosevic, ins Rennen. "Die jüngere Generation hat nur wenig Wissen, das auf Fakten beruht. Gleichzeitig aber sind einige ihrer Ansichten sehr radikal", so Todorovic.
Umfragen sehen die Regierungspartei SNS auf dem ersten Platz, dahinter "Serbien gegen Gewalt" und die Sozialisten. "Doch wir müssen uns vor Augen halten, dass die Wahlen weder frei noch fair sind", sagt Politologe Bandovic. Das plötzlich aufgetauchte Sexvideo eines Oppositionspolitikers, journalistische Enthüllungen von Stimmenkauf durch die Regierungspartei und eine Zivilgesellschaft, die auf ihren Mobiltelefonen Spionagesoftware findet – der SNS scheinen viele Mittel recht, ihr Machtmonopol zu halten.
Oppositionspolitikerin Jerinic rechnet damit, dass "Serbien gegen Gewalt" in der Hauptstadt Belgrad siegen wird. Ihrer Bewegung ist es gelungen, die Apathie zu durchbrechen, die Serbiens Politik in den vergangenen Jahren beherrschte. Das werfe laut Bandovic aber eine neue Frage für Serbien auf: Ob die Regierungspartei einen möglichen Sieg der Opposition akzeptiere? "Ich habe ernste Sorge, dass sie im Fall eines Verlustes Gewalt gegen die Opposition und ihre Unterstützer lostreten wird."