Kaum jemand wusste etwas über den Werdegang und die politischen An- oder Absichten des 35-jährigen Kasselakis, der es in den USA als Auswanderer zu Wohlstand gebracht hatte. Sozialistischen Stallgeruch hatte der Millionär aus Miami und ehemalige Goldman Sachs-Investmentbanker zwar nicht zu bieten. Aber dafür schien er für manche jenen Neubeginn zu verkörpern, den Syriza so dringend sucht.
Zwei Monate später könnte die Ernüchterung größer kaum sein. Politische Aussagen, wie er sich die Zukunft der Partei vorstellt, ist der neue Vorsitzende bisher sowohl öffentlich wie auch in den Syriza-Gremien schuldig geblieben. Kritiker wie der frühere Erziehungsminister Nikos Filis werfen Kasselakis vor, er wolle das Linksbündnis in eine Partei der Mitte umwandeln. Andere parteiinterne Gegner sagen, der autoritäre, rechtslastige Führungsstil des neuen Vorsitzenden erinnere sie an Donald Trump.
Kasselakis leitete Ausschlussverfahren gegen mehrere prominente Kritiker ein, doch die kamen dem Rausschmiss mit Austritten zuvor. Am Donnerstag verließen 57 Politiker um die ehemalige Arbeitsministerin Effie Achtsioglou die Partei. Achtsioglu war Kasselakis bei der Mitgliederabstimmung im September unterlegen. In einem gemeinsamen Schreiben an den Parteivorstand diagnostiziert die Gruppe um Achtsioglou "Auflösungserscheinungen". Erst am Mittwoch hatten 90 Mitglieder des Menschenrechtsausschusses von Syriza ihren Austritt erklärt. Im nordgriechischen Thessaloniki beschloss die Jugendorganisation der Partei fast vollzählig ihren Austritt. Nachdem sich Anfang November 46 Funktionäre um den früheren Finanzminister Euklid Tsakalotos von Syriza lossagten, haben nun bereits über 200 Politiker die Partei verlassen.
Die Syriza-Parlamentsfraktion ist nach den Austrittswellen von 48 auf 36 der 300 Sitze im Parlament geschrumpft. Beobachter erwarten, dass die abtrünnigen Syriza-Abgeordneten bald eine eigene Fraktion bilden und eine neue Partei gründen werden. Die von Kasselakis versprochene Rückkehr an die Macht wird immer mehr zu einer Fata Morgana. Zum entscheidenden Test werden die Europawahlen im nächsten Jahr. In jüngsten Umfragen kommt Syriza allerdings nur noch auf 10,5 Prozent Stimmenanteil und fällt damit hinter die sozialdemokratische Pasok auf Platz drei zurück.
Auch persönlich bekommt Kasselakis in den Meinungsumfragen miserable Noten: 70,5 Prozent der Befragten, so eine aktuelle Untersuchung des Instituts Marc, haben eine "negative Meinung" von dem Syriza-Chef. Sogar unter den Syriza-Wählern äußert sich eine Mehrheit negativ zu Kasselakis. Auf die Frage, zu welchem der griechischen Parteichefs sie das größte Vertrauen haben, nennen nur 6,7 Prozent Kasselakis. Der konservative Premier Mitsotakis kann angesichts einer fragmentierten linken Opposition ungestört durchregieren. 72,8 Prozent der Befragten glauben nicht, dass Kasselakis Mitsotakis bei den nächsten Wahlen besiegen kann.
Manche Syriza-Politiker suchen nun bereits nach einem neuen Retter, der den Niedergang der Partei stoppen soll. In diesem Zusammenhang wird hinter den Kulissen auch Alexis Tsipras genannt. Sein Name ist zwar mit dem kometenhaften Aufstieg von Syriza eng verbunden, allerdings auch mit dem nicht weniger rasanten Niedergang der Partei in der Opposition. Als Tsipras 2008 den Parteivorsitz übernahm, lag das Linksbündnis bei 5 Prozent. Die Finanzkrise brachte Syriza 2015 mit 36 Prozent Stimmenanteil an die Macht.
Ihren Wahlsieg verdankte die Partei vor allem der linkspopulistischen Demagogie ihres Zugpferdes Tsipras. Syriza ist ein Sammelbecken aus Marxisten, Ex-Kommunisten, Anarchisten, Ökologen und Sozialdemokraten. Um die widerstreitenden Fraktionen zusammenzuhalten, brauchte Tsipras nicht viel zu tun. Geeint wurde die Partei vor allem durch die ihr zugefallene Macht. Aber mit dem Ende der Krise begann die Talfahrt. Nach den Parlamentswahlen von 2019 musste Tsipras die Macht an den Konservativen Kyriakos Mitsotakis abgeben. Danach ging es nur noch bergab. Bei der Wahl vom Juni 2023 verlor Syriza gegenüber 2015 die Hälfte ihrer Wähler. Die Wahlniederlagen seit 2019 zeigen, dass es Tsipras nicht gelungen ist, aus der Protestpartei Syriza eine linke Volkspartei zu formen.
Jetzt setzt der politisch völlig unerfahrene und undiplomatische Kasselakis Zentrifugalkräfte frei, die letztlich zur Desintegration des Linksbündnisses führen könnten. Tsipras hat sich aus den innerparteilichen Kämpfen bisher herausgehalten. Das könnte darauf hindeuten, dass er sich im Hintergrund für ein Comeback bereithält. Mit 49 Jahren ist er noch zu jung für den politischen Ruhestand. Aber ob der Ex-Premier jetzt wirklich Lust hat, wieder das Ruder des mittlerweile sinkenden Schiffes Syriza zu übernehmen, ist fraglich. Und ebenso fraglich ist, ob es Tsipras gelingen könnte, den drohenden Untergang von Syriza doch noch abzuwenden.