Doch jetzt ist Li Shangfu auf mysteriöse Weise verschwunden. Fragen nach dem Verbleib des erst im März ins Amt berufenen Ministers wurden am Freitag, 15. September 2023, von einem Sprecher des chinesischen Außenministeriums stoisch abgebügelt: "Ich bin mit der Situation nicht betraut." Rahm Emanuel, der für sein loses Mundwerk bekannte ehemalige Stabschef von US-Präsident Barack Obama und heutige US-Botschafter in Japan, verglich den Vorfall auf Twitter wie folgt: "Die Kabinettszusammensetzung von Präsident Xi (Jinping) ähnelt jetzt einem Roman von Agatha Christie." Im Buch mit dem Titel "Und dann gabs keines mehr" verschwinden nacheinander zehn Personen.
Erst im Juli war Chinas Außenminister Qin Gang offiziell von seinen Aufgaben entbunden worden. Zuvor war er einen Monat lang in der Öffentlichkeit vermisst worden. Qin ist bis heute nicht wieder aufgetaucht, hat aber auf offiziellen Webseiten seinen Titel als Staatsrat erhalten. Auch seine biografischen Details werden auf den Webseiten veröffentlicht, was bei gestürzten Kadern eigentlich eher ungewöhnlich ist. Ersetzt wurde Qin durch seinen Vorgänger Wang Yi, der an diesem Montag Russland besuchte. Sein Ministerium machte für den Wechsel "gesundheitliche Gründe" verantwortlich.
"Gesundheitliche Gründe" waren es auch, mit denen Peking die Absage eines für den 7. und 8. September geplanten Treffens des jetzt verschwundenen Verteidigungsministers Li Shangfu mit seinem vietnamesischen Amtskollegen begründete. Sein letzter öffentlicher Auftritt war am 29. August auf einem chinesisch-afrikanischen Sicherheitsforum. Seitdem fehlt vom chinesischen Verteidigungsminister jede Spur.
Dann begannen die Spekulationen: Steckt Li in einem Korruptionsskandal? Eine "Abteilung für Waffenentwicklung" im chinesischen Verteidigungsministerium hatte einen Aufruf gestartet und Hinweise zu korrupten Beschaffungspraktiken aus dem Jahr 2017 gesucht. Es ist genau jene Zeit, in der Li für diese Abteilung zuständig war. Laut der Agentur Reuters sollen Ermittlungen gegen insgesamt acht hochrangige Beamte der Beschaffungseinheit eingeleitet worden sein.
Geht es beim Verschwinden Lis um Korruption? Dazu würde passen, dass erst im Juli zwei hohe Kommandeure von Raketenabteilungen der Volksbefreiungsarmee ihres Amtes enthoben worden waren – einer militärischen Elitetruppe, die das Arsenal an Atomwaffen und ballistischen Raketen des Landes überwacht. Auch sie wurden seit Monaten nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Das "Wall Street Journal" zitierte eine Person aus dem unmittelbaren Umfeld der Untersuchung mit den Worten, auch Li sei vergangene Woche zum Verhör abgeführt worden.
Das mysteriöse Verschwinden von Spitzenpolitikern, die über Jahre China in der globalen Öffentlichkeit repräsentiert haben – im Reich von Chinas Diktator Xi Jinping gehört das längst wieder zur Realität. Einmal war die Welt sogar unfreiwillig Zeuge. Zum Beispiel bei der Abschlusssitzung des 20. Parteikongresses der Kommunistischen Partei Chinas am 22. Oktober 2022 – eigentlich als feierlicher Abschluss der Krönungszeremonie von "Kaiser Xi" auf Lebenszeit gedacht.
Auf dem Podium hatte neben Xi sein Vorgänger Hu Jintao Platz genommen. Er hatte als Staatspräsident Chinas Aufstieg zur Supermacht begleitet, galt aber im Westen als einer der letzten Vertreter moderater Positionen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wird Hu plötzlich von Sicherheitskräften von seinem Platz geleitet, ganz deutlich gegen seinen Willen. Er wendet sich noch an Xi, dem anzumerken ist, dass er die Situation mit einem aufgesetzten Lächeln zu entschärfen versucht.
Laut einem Parteisprecher hatte Hu den Parteitag "aus gesundheitlichen Gründen" verlassen. Nach diesem Vorfall wurde Hu Jintao sechs Wochen lang nicht gesehen, tauchte anschließend nur noch einmal am Rande der Trauerfeier für Jiang Zemin am 6. Dezember 2022 auf.
Westliche Beobachter registrieren aufmerksam, welche chinesischen Parteikader sich sehen lassen. Anders als westliche Politiker, die über ihre offiziellen Termine informieren, gibt es keine Informationen über die geplanten Aktivitäten der chinesischen Staatsführung. Auch Präsident Xi Jinping galt schon mehrfach für längere Zeit als "vermisst", was stets Spekulationen über seinen Gesundheitszustand befeuerte. Mitunter tauchen Verschwundene erst wieder auf, wenn sie wegen Korruptionsverdacht oder anderer Vorwürfe vor Gericht landen.
Dieses verschlossene System erinnert an die finstersten Zeiten der Volksrepublik. Lin Biao, Anfang der 1970er-Jahre Chinas zweitmächtigster Mann und als Kronprinz quasi gesetzt, zog jedoch das Misstrauen von Chinas mächtigem Mann Mao Zedong auf sich. Am 13. September 1971 zerschellte sein Flugzeug über der äußeren Mongolei. "Wir sind eine Großmacht der Geheimnisse", titelte spöttisch im April 2014 das Magazin "Yidu". "Jedes Jahr produzieren die USA 100.000 Verschlusssachen. Bei uns sind es Millionen." 2015 wurde die vorlaute Enthüllungszeitschrift eingestellt. Geheimniskrämerei sei ein "essenzieller Bestandteil des Systems und führe zum Rätselraten im öffentlichen Diskurs", zitiert das Forum "Table China" Michael Kahn-Ackermann, Sinologe und Gründer des Goethe-Instituts China.
In der jetzigen Häufung verschwundener Spitzenpolitiker und Militärs sieht ein Experte jedoch einen enormen Imageschaden für die aufstrebende Supermacht: "Der Außenminister und der Verteidigungsminister sind beide nach außen gerichtete Gesprächspartner der internationalen Gemeinschaft. Sie wurden möglicherweise ohne jegliche Erklärung oder Rücksichtnahme auf die globale Wahrnehmung entfernt", sagte Drew Thompson, leitender Forschungsmitarbeiter an der Lee Kuan Yew School of Public Policy der National University of Singapore, gegenüber CNN. "Das führt zu einer Vertrauenskrise gegenüber China. Es unterstreicht den Mangel an Transparenz und die völlige Undurchsichtigkeit der Entscheidungsfindung in China."
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