Er wusste, wie der Befehl für den Zug lautete: sich durch den Wald vorwärts zu kämpfen, auf dem Weg nach Bachmut. Kurier zögerte, sein tödlich verwundeter Kommandeur in der Nähe auf der Erde liegend. Dann war für ihn klar: Umzukehren kommt nicht in Frage. "Vorwärts!", brüllte er. Die Männer stolperten in Richtung des Dorfes Andrijiwka – das Ziel der dritten Sturmbrigade seit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive gegen die Russen im Frühsommer, etwa zehn Kilometer südlich der Stadt Bachmut.
Tage später, als er sich auf die Beisetzung des Kommandeurs vorbereitet, sinniert Kurier über seine eigene Zukunft, die Augen ins Leere blickend. "Der Wald nimmt unsere Freunde weg, und dies ist das Schlimmste", sagt er. "Und wenn ich daran denke, wie weit wir noch vordringen müssen ... wahrscheinlich werde ich eines Tages derjenige sein, der im Wald liegen bleibt, und meine Freunde werden sich weiter vorwärts bewegen."
Diese Strecke des toten Waldes in Richtung des Dorfes Andrijiwka ist eine von vielen dieser Art auf dem Weg zur russisch besetzten Stadt Bachmut, der eine große symbolische Bedeutung in der ukrainischen Gegenoffensive zukommt. Journalisten der Nachrichtenagentur AP verbrachten zwei Wochen mit der Brigade und erhielten dabei Einblick in die Geschwindigkeit, Richtung und die Kosten der Gegenoffensive.
Die acht Monate dauernden Kämpfe in und um Bachmut, einer heute völlig zerstörten Salzminenstadt, waren die längsten und blutigsten des Krieges. Seit russische Truppen unter Führung der Söldnergruppe Wagner die Stadt im Mai einnahmen, versuchen die ukrainischen Streitkräfte, sie von Süden und Norden her einzuschließen, und gewannen dabei in den vergangenen drei Monaten Meter für Meter an Boden. Haben manche Militärexperten und US-Vertreter den Sinn des Einsatzes der Truppen rund um die Stadt infrage gestellt, sagt die Militärführung, dieser binde russische Kräfte in der Gegend und reduziere deren Kampfkraft.
Von den Fortschritten der Ukrainer hängt viel ab. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat diese Woche in einer Rede vor den Vereinten Nationen die Welt und bei einem Washington-Besuch die USA beschworen, sein Land mit weiteren Geldern und Waffen zu unterstützen. US-Präsident Joe Biden hat beim Kongress umgerechnet bis zu 23 Milliarden Euro an zusätzlichen militärischen und humanitären Hilfen beantragt, zurzeit laufen Diskussionen darüber.
In einem Interview in der CBS-Sendung "60 Minutes" räumte Selenskyj ein, dass die Gegenoffensive langsam verlaufe, aber "es ist wichtig, dass wir jeden Tag vorankommen und Gebiet befreien", fügte er hinzu. Nach einer Studie der in London ansässigen Denkfabrik Royal United Services Institute Anfang September dringen die ukrainische Kräfte innerhalb von fünf Tagen jeweils um 700 bis 1200 Meter vor. Bei einem solchen Tempo haben die Russen Zeit, sich zu verschanzen und das Gelände zu verminen.
Die dritte Sturmbrigade besteht gänzlich aus Freiwilligen und gilt als eine der besten und erfahrensten Truppen. Sie hat seit Januar fast nonstop in der Ostukraine gekämpft, während weniger erfahrene Einheiten neu ausgebildet und mit modernen Waffen zum Einsatz in den Süden geschickt wurden.
Die Rückeroberung von Bachmut zählt zu den großen Zielen der Ukrainer, und eine Befreiung von Andrijiwka und anderen Dörfern auf dem Weg gelten als wichtige Etappen. Und so übernahm "Kurier" am 6. September – jenem Tag, an dem er die Leiche seines Kommandeurs zurückließ – mit seinen Männern einen mit Müll übersäten Schützengraben im Wald, und sie hielten ihn vier Tage lang. Auf der anderen Seite ihrer Stellung lagen verminte Felder, unbebaut und durchlöchert von Explosionskratern.
Kurier machte sich auf den Weg in die westliche Ukraine, um den Zug bei der Beisetzung des Kommandeurs in dessen Heimatstadt Polonne zu vertreten, eine fast 900 Kilometer lange Fahrt vom Schlachtfeld entfernt. Die Mutter des Getöteten trat an Kurier heran, war er doch der Letzte, der ihren Sohn lebend gesehen hatte. Aber es ist schwer für ihn, mit Zivilisten zu sprechen. "Ich habe das Gefühl, als ob es jetzt eine Kluft zwischen Zivilisten und uns gibt", sagte er, womit er anscheinend meint, dass der blutige Kampf eine eigene Welt ist, weit entfernt vom Zivilleben.
"Wenn der Krieg vorbei ist", fügt Kurier denn auch hinzu, "werde ich wahrscheinlich schlicht weggehen, um woanders zu kämpfen." Aber das heißt nicht, dass er in jenen Wald im Osten zurückkehren möchte. Seine Kommandeure haben ihm zehn Tage Urlaub gegeben, eine Pause für einen Kämpfer, dessen innere Pein sie spüren konnten – trotz seiner äußeren Ruhe. "Leider werde ich nur weggehen können, nachdem ich durch die Hölle gegangen bin", sagt Kurier bitter.
Am Tag der Beerdigung, dem 13. September, befindet sich jeder Mann fit genug zum Kämpfen in dem Wald, darunter ein anderer Feldwebel, Fedja. Er war acht Tage zuvor durch Streumunition verletzt worden, und das mag ihm das Leben gerettet haben. Sein gleichrangiger Kamerad übernahm seinen Platz bei dem Angriff – und das war an dem Tag, an dem er starb.
Der letzte Vorstoß in Richtung Andrijiwka beginnt am 14. Februar. Männer aus anderen personell dezimierten Einheiten beteiligen sich. Nach zwei Monaten des langsamen Vordringens steht der Durchbruch durch den Wald zum Dorf bevor. Aber jeder weiß, dass auch die Rückeroberung des Dorfes nur eine Etappe ist. "Wie viele Leben mehr müssen wir opfern?", fragt Fedja, ein 24-Jähriger mit einem noch glatten, faltenlosen Gesicht. "Wie viele Wälder mehr sind da?"
Am 14. September ist es endlich geschafft – mehr als drei Monate, nachdem der Befehl zur Rückeroberung des Dorfes kam. Sie brechen durch das russische Granatfeuer, feuern zurück, nehmen den kleinen Ort unter Artilleriebeschuss und werfen eine Rauchgranate auf die Hauptstraße. Russische Artillerie trifft russische Soldaten, die sich zurückziehen und ergeben, ihre Leichen liegen mit dem Gesicht nach unten oder auf der Seite zusammengerollt auf der Erde. Die letzten hundert Meter führen durch ein Gemisch aus Blut, Metall, Müll, verbrauchten Patronen und zerrissener Panzerung.
In jener Nacht auf den 15. September träumt Fedja, dass er hinter einem von Granatsplittern durchbohrten Lastwagen auf dem Schlachtfeld kauert und von Artilleriefeuer getroffen wird. Am Morgen trägt er eine ukrainische Flagge, um sie in Andrijiwka aufzuziehen. Und er hält sich bereit, die Kontrolle an die nächste Brigade zu übergeben – um den nächsten Wald zu bezwingen.
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