Die Geheimverhandlungen zwischen der sozialistischen Regierungspartei (PSOE) und den Separatisten des ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont (Junts), die an diesem Wochenende in Genf begannen, sind aus anderem Grund eine Zumutung für die spanische Demokratie. Nicht wegen des Wies, sondern wegen des Warums.
Halb Spanien ist seit einem Monat in Aufruhr. Jeden Abend demonstrieren Unentwegte, unter ihnen Rechtsradikale, vor der PSOE-Parteizentrale in Madrid, mal Dutzende, mal Tausende. Fast jedes Wochenende bringt die bürgerliche Volkspartei (PP) mindestens Tausende, manchmal Hunderttausende Demonstranten gegen die Regierung auf die Beine. Die Empörten finden, dass Pedro Sánchez, der frisch wiedergewählte sozialistische Ministerpräsident, sie an die katalanischen Separatisten verkauft.
Da ist was dran. Sánchez ist der Politiker, der sagt: Dies sind meine Prinzipien – wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich andere. Sánchez wollte dafür sorgen, dass Puigdemont in Madrid vor Gericht gebracht wird. Jetzt rollt er ihm in Genf den roten Teppich aus.
Das erste und wichtigste Geschenk, das Sánchez dem im belgischen Waterloo residierenden Puigdemont machte, war das Versprechen einer Amnestie für alle Delikte im Zusammenhang mit dem illegalen Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017. Den Gesetzentwurf dafür hat kürzlich Sánchez‘ neuer Justizminister und enger Vertrauter Félix Bolaños ins Parlament eingebracht; wenn es durchkommt, kann Puigdemont wieder nach Spanien zurückkehren, ohne seine Festnahme zu befürchten. Im Gegenzug für dieses Versprechen halfen die sieben Junts-Abgeordneten im spanischen Parlament Pedro Sánchez bei der Wiederwahl. Ohne diese sieben Stimmen wäre Sánchez gescheitert.
Eine Amnestie ist ein ausgesprochen heikler Eingriff ins gewöhnliche Funktionieren der Justiz. Der Gesetzgeber nimmt sich heraus, eine Gruppe von Delinquenten ihrer Strafe zu entziehen. Dafür braucht es gute Gründe, die in diesem Fall fehlen. Dass mit der Amnestie das friedliche Zusammenleben von Katalanen und allen anderen Spaniern befördert würde, ist ein Werbeslogan ohne Substanz, denn das Zusammenleben war bisher schon friedlich.
Der Katalonien-Konflikt ist nicht der Nahost-Konflikt und auch nicht der Nordirland-Konflikt. Wahrscheinlich ist er überhaupt kein Konflikt, sondern eine Meinungsverschiedenheit. Viele Katalanen (weniger als die Hälfte) wünschen die staatliche Unabhängigkeit, für die die große Mehrheit der Spanier nicht zu haben ist. Und die nichtkatalanischen Spanier haben mitzureden: Schließlich entstünden nach einer denkbaren Abspaltung Kataloniens auf bisher spanischem Boden zwei neue Staaten.
Bei aller Empörung über die geplante Amnestie würde die Wut darüber wahrscheinlich im Laufe der Monate verrauschen. Man kann sich nicht ewig über das Immergleiche ärgern. Dass die Empörung bleibt, dafür sorgt der Pakt, den PSOE und Junts vor vier Wochen abgeschlossen haben. Der ist das Öl, das das Feuer weiter lodern lässt.
Der Pakt sieht vor, dass Junts der Sánchez-Regierung regelmäßig auf die Finger schaut, was normal ist. Dafür bräuchte es keine Geheimtreffen in Genf. Doch Junts und PSOE wollen nach ihren eigenen Erklärungen mehr: "eine politische und verhandelte Lösung des Konflikts erreichen". Und mit der Figur des Vermittlers, den sie "Koordinator des internationalen Mechanismus" nennen und der von dem salvadorianischen Diplomaten Francisco Galindo Vélez verkörpert wird, heben die Parteien ihre Gespräche auf das Niveau von Friedensverhandlungen zwischen Kriegsparteien.
Mit der Figur des Vermittlers, den sie "Koordinator des internationalen Mechanismus" nennen, heben die Parteien ihre Gespräche auf das Niveau von Friedensverhandlungen zwischen Kriegsparteien.
Das schmerzt die Spanier, die wissen, dass hinter den vielen Worten und Gesten nur der unbedingte Wunsch von Pedro Sánchez steht, weiter die Regierung zu führen. Und mit jeder neuen Nachricht über diese Verhandlungen wird sich der Schmerz vertiefen. Spanien wird unruhig bleiben.
Es gibt auch Spanier, die an der Amnestie und an den Genfer Gesprächen nichts auszusetzen haben: weil sie immer schon fanden, dass so und nicht anders mit den Separatisten zu verhandeln sei (die wenigsten) oder weil ihnen alles lieber ist als die Alternative einer rechten PP-Vox-Regierung (sehr viel mehr). Alle anderen sind und bleiben empört.