Die Richter entsprachen damit teilweise einem Eilantrag Südafrikas, das eine sofortige Einstellung der militärischen Handlungen Israels gefordert hatte. Nach dieser ersten Entscheidung dürfte das Völkermord-Verfahren nun über Monate oder Jahre weiterlaufen. In der Nacht starben bei israelischen Luftangriffen vier Kämpfer der Hisbollah-Miliz im Libanon, nachdem Israel von dort beschossen worden war. Die Huthi-Miliz griff im Golf von Aden erneut einen Frachter an. In Genf wehrte sich die Weltgesundheitsorganisation derweil gegen schwere Vorwürfe Israels.
UN-Generalsekretär António Guterres erinnerte nach dem IGH-Urteil daran, dass Entscheidungen des IGH bindend seien. Alle Beteiligten müssten sich an den Richterspruch halten, sagte er in New York. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte: "Der Gerichtshof hat zugleich deutlich gemacht, dass Israels Vorgehen in Gaza auf den barbarischen Terror des 7. Oktobers folgt, und daran erinnert, dass auch Hamas an das humanitäre Völkerrecht gebunden ist und endlich alle Geiseln freilassen muss." Auch die EU-Kommission von Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell riefen Israel zur Befolgung der Gerichtsentscheidung auf.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagierte eher zurückhaltend auf das Urteil. "Israels Respekt für das internationale Recht ist unerschütterlich", sagte er in einer Video-Botschaft. Zugleich werde sich das Land weiterhin "gegen die Hamas, eine völkermordende terroristische Organisation, zur Wehr setzen". Die gegen Israel erhobenen Völkermord-Anschuldigungen seien "nicht nur falsch, sondern auch empörend", sagte Netanjahu.
Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats in den USA, John Kirby, sagte zum Vorwurf des Völkermords: "Wir haben einfach immer wieder gesagt, dass wir diese Behauptung für unzutreffend halten. Und das Gericht hat Israel auch nicht des Völkermordes für schuldig befunden." US-Präsident Biden wolle, dass der Krieg im Gazastreifen ende, damit die Menschen dort in Frieden leben könnten. Man dränge weiter auf eine Unterbrechung der Kämpfe, ein allgemeiner Waffenstillstand sei im Moment aber nicht "der beste Ansatz".
Die Terrororganisation Hamas und andere extremistische Gruppen hatten am 7. Oktober im israelischen Grenzgebiet ein Massaker angerichtet, bei dem ungefähr 1200 Menschen getötet und rund 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden. Israel bekämpft die Islamisten seitdem in dem isolierten Küstenstreifen mit einer Bodenoffensive und aus der Luft. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde sind bereits mehr als 26.000 Menschen getötet worden. 75 Prozent von ihnen seien Frauen, Kinder oder ältere Männer gewesen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Propalästinensische Länder und die Hamas freuten sich über die IGH-Entscheidung. "Das ist eine wichtige Entwicklung, die dazu beiträgt, dass Israel international isoliert wird", teilte ein Hamas-Sprecher mit. Das Verfahren vor dem UN-Weltgericht werde "Israels Verbrechen im Gazastreifen zur Schau stellen". Irans Außenminister Hussein Amirabdollahian forderte andere Länder auf, die Klage zu unterstützen. Kläger Südafrika nannte das Urteil "einen entscheidenden Sieg für die internationale Rechtsstaatlichkeit". Das Land vergleicht die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung während des rassistischen Apartheid-Regimes (1948-1994) in Südafrika mit dem Umgang Israels mit den Palästinensern.