Zum einen galt er als überzeugter Sozialist, gleichzeitig war Delors anspruchsvoller und pragmatischer Vorkämpfer für ein integriertes Europa. Zehn Jahre stand er an der Spitze der Europäischen Kommission – der mächtigen Brüsseler Behörde der Europäischen Gemeinschaft und später der Europäischen Union. Am Mittwoch ist er im Alter von 98 Jahren gestorben.
Wie kaum ein anderer Politiker hat er den europäischen Integrationsprozess und die Weiterentwicklung des Binnenmarktes vorangetrieben – und war damit ein Motor für die gewaltige Umbruchsstimmung, die die EU ab Mitte der 80er-Jahre erfasste. 1985 wurde der Vertrag von Schengen geschlossen, Spanien und Portugal kamen 1986 als neue Mitglieder hinzu, das Studenten-Austauschprogramm Erasmus entstand 1987.
Entschlossen ging Delors das Ziel an, den gemeinsamen Binnenmarkt stark auszuweiten, Handelshemmnisse und steuerliche Schranken abzubauen – bis es auch keine Personen- und Warenkontrollen an den Binnengrenzen der Mitgliedsländer mehr gebe.
Auch die Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags 1992 begleitete er und ebnete maßgeblich den Weg zur Gemeinschaftswährung. Ihn trug die Überzeugung, diese fördere auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer. "Der Euro wird uns Frieden, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit bringen", prophezeite der diskret auftretende Politiker mit dem hintersinnigen Lächeln.
Bis ins hohe Alter trat Delors als Mahner für mehr nachbarschaftliche Verständigung, weniger nationale Egoismen, für nachhaltigen Klimaschutz, den Kampf gegen soziale Ungleichheit und eine EU-weite Sozialpolitik ein. "Das Fehlen von Solidarität bringt die Europäische Union in eine tödliche Gefahr", warnte er noch im März 2020, als die Corona-Pandemie Europa erreichte und Schwierigkeiten bei der Koordinierung zum Vorschein traten.
In relativ einfachen Verhältnissen als Sohn eines Kassierers bei der französischen Nationalbank Banque de France und einer Hutmacherin in Paris aufgewachsen, studierte Jacques Delors zunächst Jura. Danach schloss er eine höhere Bankenschule ab und machte – ebenfalls in der Banque de France – Karriere bis hin zum stellvertretenden Direktor.
Zugleich engagierte er sich in der Vorläufergewerkschaft der heutigen CFDT, die als gemäßigt und reformorientiert gilt. Fünf Jahre nach seinem Eintritt in die Sozialistische Partei wurde Delors 1979 EU-Abgeordneter und 1981 unter Präsident François Mitterrand französischer Wirtschafts- und Finanzminister. Zunächst begleitete er dessen Politik mit Verstaatlichungen, einer Erhöhung der Mindestlöhne und Verkürzung der Arbeitszeiten, bevor der Wechsel zu einem strikten Sparkurs folgte.
Mitterrand war es auch, der seinen Parteifreund als Kommissionspräsidenten vorschlug. In den Folgejahren wusste Delors der Europäischen Gemeinschaft neuen Elan zu verschaffen. Europa, so sagte er selbst, sei ein "spirituelles Abenteuer". Anders als Mitterrand war Delors ein Fürsprecher der deutschen Wiedervereinigung: Die Ostdeutschen gehörten für ihn ganz selbstverständlich zu Europa. "Ich habe keine Angst", sagte er am 12. November 1989 im deutschen Fernsehen – und zwar auf Deutsch. 1992 erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen.
Große Verwunderung löste es aus, als Delors am Ende seiner Karriere in der EU-Kommission seinen politischen Ruhestand verkündete, anstatt sich zum Kandidaten der Sozialisten bei der französischen Präsidentschaftswahl 1995 zu erklären. Es fehlten ausreichende Mehrheiten für einen Sieg, begründete er selbst die Entscheidung – und enttäuschte dabei nicht wenige.
Seine Tochter Martine Aubry, ehemalige Sozialistenchefin und langjährige Bürgermeisterin von Lille, war 2012 wiederum in den Vorwahlen ihrer Partei gescheitert. Delors engagierte sich in der Folge auf andere Weise, etwa als Verwaltungsratsvorsitzender im angesehenen Collège d‘Europe in Brügge oder mit seinem Verein "Unser Europa – Institut Jacques Delors". Hier kämpfte er weiter für seine Vision einer geeinten, starken Union.