Etwa zwei Monate habe Russland auf den Einsatz von Marschflugkörpern verzichtet, um diese für Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung in diesem Winter aufzusparen. In den vergangenen Tagen fiel die Temperatur in Kiew und vielen anderen Orten des Landes unter null Grad. Statt Marschflugkörper hatte das russische Militär Ziele in der Ukraine mit iranischen Shahed-Drohnen angegriffen. "Eines der Ziele Russlands bestand wahrscheinlich darin, die Luftverteidigung der Ukraine zu schwächen, um das Schlachtfeld für eine konzertierte Winterangriffskampagne gegen die Energieinfrastruktur der Ukraine vorzubereiten", heißt es im britischen Geheimdienstbericht.
Im vergangenen Winter hatte die russische Armee beinahe täglich große Wellen von Raketen und Drohnen eingesetzt, um die ukrainische Energieversorgung zu zerstören. Russland setzt die billigen Drohnen dazu ein, die ukrainische Flugabwehr an ihre Grenzen zu bringen, und greift dann mit schweren Raketen an. Tausende Orte in der ganzen Ukraine waren ohne Strom und Wasser, die Heizungen blieben kalt.
"Je näher der Winter rückt, desto mehr russische Versuche wird es geben, die Angriffe zu verstärken", warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Wochenende. Rund 60 Angriffe auf Heizkraftwerke, Stromverteiler, Stromnetze und andere Energieinfrastruktur gab es im letzten Winter am Tag und schon jetzt nehmen die Angriffe zu.
"Die größte Gefahr für die Ukraine in diesem Winter dürfte der Mangel an Munition zur Abwehr von Drohnen und Raketen sein", sagt Militärstratege Niklas Masuhr von der ETH Zürich. "In der Folge ist nicht nur die Infrastruktur zur Energieversorgung Angriffen ausgesetzt, sondern auch an der Front wird die Mangellage für die ukrainischen Soldaten zu einer Gefahr." Seiner Einschätzung nach deute jedoch bisher nichts darauf hin, dass die russischen Angriffe die ukrainische Bevölkerung einschüchtern würden.
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko blickt mit Sorge auf die kommenden Monate. "Vor dem Winter bin ich nervös", sagte der ehemalige Profiboxer. In der Ukraine herrsche derzeit "eine Illusion an Leben, die jede Sekunde zerstört werden kann", beschrieb der Politiker die Lage in seinem Heimatland. Die Menschen dort träumten von Frieden. Einen Teil der Ukraine an Russland abzugeben, sei undenkbar. "Wir kämpfen auch für unsere europäische Zukunft", so Klitschko.
Im Februar 2022 hatte Russland die Ukraine angegriffen. Seitdem herrscht dort Krieg. Ein Ende? Zurzeit nicht absehbar, sagte Klitschko. Seine Stadt sei gut auf den nahenden Winter vorbereitet. "Man kann aber nicht ausschließen, dass russische Raketen unsere Infrastruktur zerstören", warnte der 52-Jährige. Auch deshalb rate er seinen Bürgerinnen und Bürgern, auf das Schlimmste gefasst zu ein, also ausreichend Lebensmittel, Trinkwasser und warme Kleidung bereitzuhalten. "Jeder muss bereit sein."
Das Ukrainische Rote Kreuz und das Internationale Komitee des Roten Kreuz (IKRK) unterstützen die Menschen seit Wochen dabei, sich auf den Winter und neue Angriffe auf die Energieversorgung vorzubereiten. "Wir haben Hunderte Generatoren, Transformatoren und Baumaterialien gespendet und arbeiten mit Heizungsfirmen in Donezk, Charkiw, Cherson und Mykolajiw zusammen, alles Regionen entlang der Frontlinie, um die Wärmeversorgung sicherzustellen", sagt Achille Després vom IKRK in Kiew. Hilfsorganisationen, Behörden und auch die Menschen selbst hätten aus dem letzten Winter gelernt und seien jetzt besser vorbereitet. "Trotzdem muss ich sagen, es steht uns ein harter Winter bevor."
Nach offiziellen Angaben konnten nur etwa 70 Prozent der von Russland beschädigten Anlagen repariert werden. Dadurch ist die Energieversorgung bei Minustemperaturen auch ohne russische Angriffe fragil. Beobachter rechnen daher auch in diesem Winter mit temporären Blackouts. Einige Städte, wie Lwiw im Westen der Ukraine, haben sich sogar auf Worst-Case-Szenarien wie einen zweimonatigen Stromausfall vorbereitet.
Doch in vielen Gegenden fehlt es an Baumaterialien, Häuser und Wohnungen sind stark beschädigt und nicht winterfest, berichtet Després. "Wir helfen den Menschen, zerstörte Gebäude zu reparieren und verteilen Brennmaterial, damit niemand frieren muss." Vor allem an der Front und in anderen schwer zugänglichen Gegenden gebe es oft weder funktionierende Heizung noch Strom. Allerdings beobachtet er, dass die Menschen widerstandsfähiger geworden seien und sich gegenseitig unterstützen. "Aber der Winter wird auf jeden Fall eine Herausforderung."
Das Rote Kreuz mahnt, dass die zivile Infrastruktur, zu der auch die Energieinfrastruktur gehört, durch das humanitäre Völkerrecht geschützt ist. "Es ist nicht hinnehmbar, dass Angriffe auf die Infrastruktur in der kalten Jahreszeit unermessliches menschliches Leid verursachen", sagt Després. "Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass die Energieinfrastruktur als Waffe eingesetzt wird, unter der Zivilisten leiden."