"Ich dachte, dass wir nach dem Holocaust, nach der Vernichtung von 6 Millionen Juden, vielleicht aus der Geschichte gelernt hätten", schrieb Mathias Döpfner in der "Bild". In einem Kommentar vom letzten Sonntag mit dem Titel "Nicht schon wieder!" schrieb Döpfner, zwei jüdische Mitarbeiter seien ins Ausland gegangen, weil sie sich nicht sicher fühlten, während ein anderer, der eine jüdische Frau habe, den Wunsch geäußert habe, sein Kind aus dem Kindergarten zu nehmen. Döpfner kritisierte den UN-Generalsekretär António Guterres und die Fridays-for-Future-Bewegung von Greta Thunberg. Wenn es um die Unterstützung Israels gehe, so schrieb er, "gibt es kein Ja, aber".
Am Mittwoch warf Vizekanzler Robert Habeck linke Demonstranten vor, sie würden sich im Rahmen einer "Erzählung des großen Widerstands" gegen Israel wenden. Habeck forderte von der Polizei ein hartes Durchgreifen und die Abschiebung der vor Gericht Verurteilten ohne Aufenthaltserlaubnis. Der Konsens verstärkte sich nach einer Flut antisemitischer Vorfälle, darunter dem Brandanschlag auf eine Synagoge im Zentrum Berlins. Die meisten pro-palästinensischen Proteste wurden verboten – selbst ein kleiner jüdischer Protest, der Israels Vorgehen in Gaza kritisierte, wurde aufgefordert, sich aufzulösen. Dennoch warfen rechte Kommentatoren der Bundesregierung vor, bei diesen Protesten nachsichtig vorzugehen, während Bürgerrechtsgruppen der Polizei Zensur und Härte vorwarfen.
Erst diese Woche gab die Familie von Shani Louk, einer 22-jährigen deutsch-israelischen Frau, die vermutlich am 7. Oktober von der Hamas entführt worden war, bekannt, dass ihre sterblichen Überreste gefunden worden seien. Bundeskanzler Olaf Scholz war der erste westliche Staatschef, der Israel nach den Anschlägen besuchte und erklärte, es habe "jedes Recht, sich zu verteidigen". Diese Dynamik hat tiefe Wurzeln. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten der westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der israelische Premierminister David Ben-Gurion eine enge Beziehung.
Ihren Höhepunkt erreichte sie mit einer Rede von Angela Merkel vor der Knesset im März 2008 anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung des israelischen Staates. Sie erklärte, die Unterstützung Israels sei Teil der Staatsräson, der Daseinsberechtigung der Bundesrepublik. Doch selbst diese Äußerungen wurden von einigen israelischen Politikern als inakzeptabel erachtet, da sie bereits die Idee der deutschen Sprache in ihrem Parlament anprangerten.
Trotz einiger Unebenheiten auf dem Weg ist die Beziehung stabil geblieben. Deutschland hat im Laufe der Jahre immer wieder Forderungen nach einer Zwei-Staaten-Lösung und einer Wiederbelebung des Friedensprozesses geäußert. Aber wenn Aussagen darüber hinaus verhärtet werden, etwa wenn es um Kritik am Ausbau der Siedlungen im Westjordanland oder allgemeiner zur Behandlung der Palästinenser geht, werden sie ausnahmslos als inakzeptabel angeprangert.
Christoph Heusgen, ein ehemaliger Chefberater für Außenpolitik und jetzt Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, verteidigte kürzlich den UN-Generalsekretär für dessen Aussage, dass die Ereignisse der letzten Wochen im Kontext der "jahre erdrückenden Besatzung" der Palästinenser gesehen werden sollten. Heusgen beschrieb Guterres als einen "sehr besonnenen Mann" und sagte in einem Fernsehinterview: "Er hatte recht, als er die Aktion der Hamas verurteilte und gleichzeitig feststellte, dass sie nicht im luftleeren Raum stattfand." Heusgen hätte seine Worte treffender wählen können. Allerdings wurde er von Politikern mehrerer Parteien wegen einer "Relativierung" des Leids angeprangert.
Seit dem 7. Oktober sind Politiker in Berlin zurückhaltender denn je, Benjamin Netanyahus Bilanz zu erwähnen – die Korruptionsvorwürfe, das populistische Vorgehen gegen die Gerichte und die außergewöhnlichen Geheimdienst- und Sicherheitsmängel des vergangenen Monats. Die Idee der Vergangenheitsbewältigung ist eine der großen Erfolgsgeschichten des modernen Deutschlands. Es bietet einen moralischen Kompass für Staat und Gesellschaft. Längerfristig kann dies jedoch nicht als Zwangsjacke fungieren oder eine schwierige Diskussion ersticken.
Die nächste Phase des Konflikts sollte eine neue Dynamik und eine entschlossene Diplomatie erfordern, an der Israel, die USA und arabische Staaten beteiligt sind, um eine langfristige politische Lösung für die israelisch-palästinensische Sackgasse zu finden. Auch die EU sollte sich deutlicher engagieren. Deutschland könnte trotz seiner schrecklichen Vergangenheit – und gerade deswegen – eine nützliche Rolle spielen.