Weder in der Ukraine noch in Europa noch in der Nato würde die Mehrheit der Bevölkerung verstehen, wenn Kiew bei dem Spitzentreffen in Litauen keine "wohlverdiente Einladung" erhielte, sagte Selenskyj nach einem Besuch von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Kiew. Zur Begründung erklärte er, kaum jemand trage derzeit mehr zur euroatlantischen Sicherheit bei als die ukrainischen Soldaten. Sein Land habe daher alles getan, um sicherzustellen, dass dem Antrag aus Kiew stattgegeben werde.
Unterstützung bei seinen Forderungen bekommt Selenskyj insbesondere von mittel- und osteuropäischen Staaten wie Litauen. Dass sie Nato-Partner wie die USA zu einem Kurswechsel bewegen können, gilt derzeit allerdings als äußerst unwahrscheinlich. Nach Angaben von Diplomaten erklären Gegner einer konkreten Beitrittsperspektive ihre Position damit, dass dieses Ziel derzeit nicht realistisch sei und von der viel wichtigeren Unterstützung für die Ukraine ablenken könnte. Zudem wird das Risiko gesehen, dass neue Zusagen der Nato Russland Argumente für eine noch aggressivere Kriegsführung liefern könnte.
Anlässlich des Besuchs von Stoltenberg in Kiew vor zwei Wochen hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow Aussagen erneuert, nach denen Russland eine mögliche Nato-Mitgliedschaft als Bedrohung sieht. Demnach wäre ein Beitritt "eine ernste, bedeutende Gefahr für unser Land, für seine Sicherheit". Um der Ukraine beim Nato-Gipfel in Litauen dennoch entgegenkommen zu können, wird nach Angaben von Diplomaten derzeit an einem bereits von Stoltenberg angekündigten Unterstützungspaket gearbeitet. Zudem ist im Gespräch, der Ukraine anzubieten, künftig in Form eines Nato-Ukraine-Rates Gespräche über eine noch engere Zusammenarbeit zu führen. Dies könne das "Partnerschaftsgefühl" zwischen der Nato und der Ukraine stärken und einen echten Unterschied machen, erklärte jüngst ein ranghoher Diplomat.
Bislang kommt die Nato mit Vertretern der Ukraine lediglich in Form von sogenannten Kommissionssitzungen zusammen. In ihnen ging es früher vor allem um Reformanforderungen. Echte Bewegung in den Gesprächen über eine Beitrittsperspektive für die Ukraine wird es nach Angaben aus Nato-Kreisen vermutlich nur geben, wenn der Ukraine ein Erfolg im Krieg gegen Russland gelingen sollte. Dann müssten die Nato-Staaten nicht fürchten, über die Aufnahme der Ukraine direkt Kriegspartei zu werden.
Einen Beitritt der Ukraine in Kriegszeiten schloss Generalsekretär Stoltenberg jüngst indirekt aus. So verwies er darauf, dass es eine Voraussetzung für die Nato-Mitgliedschaft sei, dass die Ukraine den Krieg als unabhängige Nation überstehe. "Wenn sich die Ukraine nicht als souveräne unabhängige Nation in Europa durchsetzt, dann ist es sinnlos, über eine Mitgliedschaft zu diskutieren", sagte er jüngst am Rande eines Treffens der internationalen Kontaktgruppe zur Koordinierung von Militärhilfe für die Ukraine.
Die Regierung von US-Präsident Joe Biden äußerte sich auf Anfrage nicht zu den internen Gesprächen vor dem Gipfeltreffen in Litauen. Sie bestätigte allerdings indirekt, dass sie weitere Waffenlieferungen und andere Hilfen für die Ukraine in der derzeitigen Situation für wichtiger hält als Planungen für einen Nato-Beitritt. "Wie konzentrieren uns darauf, so schnell wie möglich weitere praktische Unterstützung in die Hände der Ukrainer zu bekommen", sagte eine ranghohe Regierungsvertreterin. Man prüfe auch, was längerfristig getan werde könne, um die Fähigkeit der Ukraine zur Abwehr und zur Abschreckung von Aggressionen zu stärken. Zum Thema Beitrittsperspektive machte sie lediglich deutlich, dass die USA die Nato-Erklärung aus dem Jahr 2008 nicht in Frage stellen. "Es nicht die Frage, ob die Ukraine dem Bündnis beitritt, sondern wann", sagte sie.
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