Als überschuldet gilt, wer seinen finanziellen Verpflichtungen langfristig nicht nachkommen kann. Für seinen "Schuldneratlas" wertet Creditreform seit 2004 anonymisierte Daten aus amtlichen Registern, Online-Händlern und anderen Quellen aus.
Da Creditreform seine Methodik umgestellt hat, sank die Zahl der Überschuldungen in der neuen Berechnung sogar leicht auf 5,65 Millionen. Vergleiche man hingegen "Äpfeln mit Äpfeln" - gehe man also in der gleichen Methodik vor wie 2022 - so ergebe sich ein Plus auf 5,9 Millionen, sagte Fachmann Hantzsch.
Jahrelang war es in der Statistik runtergegangen. In Coronazeiten wurden die Menschen sparsamer und gerieten auch deshalb seltener in die Schuldenfalle, weil es weniger Möglichkeiten zum Geldausgeben gab. Eine Rolle spielten auch niedrige Zinsen und staatliche Hilfen, mit denen Firmen gestützt wurden und Jobs erhalten blieben.
Inzwischen sieht die Lage anders aus: Die konjunkturellen Aussichten sind düster, die Arbeitslosenzahlen steigen und die Zinsen ziehen an. Wer zum Beispiel seine Wohnung abbezahlt und dafür einen neuen Kredit braucht, muss nun viel tiefer in die Tasche greifen als zuvor. Hinzu kommt, dass Lebenshaltungskosten weiterhin hoch sind. "Es ist der Krisen zu viel und der Durchschlag auf die Verbraucher ist da", sagte Wirtschaftsforscher Hantzsch.
Der Schuldenatlas gab zudem Einblick in die Gründe dafür, dass Menschen finanziell aus dem Gleichgewicht geraten. In 19 Prozent der Fälle liegt es an Arbeitslosigkeit, in 18 Prozent an einer Erkrankung, einer Sucht oder einem Unfall. Auch Trennung vom Ehepartner, eine gescheiterte Selbstständigkeit und eine unwirtschaftliche Haushaltsführung sind entscheidende Faktoren.
Bei einem Blick auf die Altersgruppen fällt auf, dass sich das Problem der Überschuldung bei den Unter-30-Jährigen verschärft hat. Das liegt auch an einer recht neuen Form von Ratenkrediten von Online-Zahlungsdienstleistern, die mit dem Slogan "Buy now pay later" (Kauf jetzt, zahle später) besonders unter jungen Leuten Anklang finden.
Konjunkturforscher Rainer Bovelet sieht das als Problem. "Die Zahlungen werden erst in einem halben oder ganzen Jahr fällig - da kann es passieren, dass die Leute den Überblick verlieren." Zehn Jahre lang hatte es keinen Überschuldungsanstieg in der Unter-30-Altersgruppe gegeben, nun zog die Zahl wieder an.
Unterdessen berichtete die Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung von deutlich steigenden Anfragen von Menschen, die mit Schulden kämpfen. Die Prognose von Creditreform, dass sich das Problem verschärfen werde, sehe man mit Sorge. "Die gemeinnützigen Sozialen Beratungsstellen arbeiten häufig seit Monaten am Limit", sagte Geschäftsführerin Ines Moers. Wegen der hohen Nachfrage seien die Wartezeiten bei den Beratungsstellen lang. Die staatlich anerkannten und kostenfrei zugänglichen Beratungsangebote sollten "massiv ausgebaut werden", forderte sie.
Verbraucherschützer setzen sich für einen besseren Schutz der Menschen bei der Kreditvergabe ein, damit diese sich gar nicht erst in den Schuldensog geraten. "Ein effektiver Schutz vor Überschuldung kann nur gelingen, wenn die Kreditgeber das für die Rückzahlung zur Verfügung stehende Einkommen bei der Kreditwürdigkeitsprüfung zwingend erfassen müssen", sagte Dorothea Mohn vom Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und wertete die "Buy now pay later"-Angebote ebenfalls als Problem. "Hier muss die Bundesregierung gesetzlich nachschärfen."
Die Creditreform-Experten sind sich zwar sicher, dass die Zahl der Überschuldungen im kommenden Jahr anziehen wird, eine Zahlen-Schätzung wollten sie aber nicht machen. 2022 hatten sie ziemlich daneben gelegen: Sie hatten schon damals eine Zunahme prognostiziert und für 2023 ein Plus von 600 000 als "nicht unrealistisch" bezeichnet.
Nun sind es nur 17 000 geworden. "Wir haben deutlich mehr erwartet", räumte Wirtschaftsforscher Hantzsch ein. Vor einem Jahr habe eine Energiemangellage gedroht und man habe extrem hohe Strom- und Gas-Kosten befürchtet. Dank staatlicher Stützungsmaßnahmen habe sich die Situation aber doch nicht so schlimm entwickelt.
Außerdem hätten mehr Bürger finanziell vernünftig agiert als angenommen. "Viele Verbraucher sagen sich, in solch unsicheren Zeiten werden weder das Haus oder Wohnung gekauft, noch das Auto gewechselt oder größere Konsumausgaben getätigt - man hält sich zurück, weil man eben nicht weiß, was in der Zukunft kommt."
In das pessimistische Bild, das Creditreform zeichnete, passte auch das Ergebnis einer ebenfalls am Mittwoch veröffentlichten Umfrage der Auskunftei CRIF. 39 Prozent der Bundesbürger rechnen im kommenden Jahr damit, dass ihnen ein geringeres Monatsbudget zur Verfügung stehen wird. 16 Prozent der Befragten gaben an, auf neue Kredite angewiesen zu sein, um über die Runden zu kommen.