Die US-Sendung "PBS NewsHour" hatte über die Russland-Geschäfte zwischen 2014 und 2019 berichtet. "Die NSH-Gruppe hat ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in der russischen Föderation komplett eingestellt", teilte das Unternehmen mit. Doch dem RND liegen Exportdokumente vor, wonach die Konzerngruppe auch nach der Ausweitung des Krieges auf die ganze Ukraine im Februar 2022 über mindestens drei Tochtergesellschaften Waren nach Russland geliefert hat.
Demnach hat der in Chemnitz ansässige Tochterkonzern Niles-Simmons Industrieanlagen GmbH in mindestens 68 Fällen Produkte im Gesamtwert von 5,4 Millionen US-Dollar nach Russland exportiert. Einer der größten russischen Abnehmer ist die Evraz-Gruppe, die zu den wichtigsten Stahlherstellern Russlands zählt. Zu ihren größten Anteilseignern gehört der seit Mitte März 2022 von der EU sanktionierte Multimilliardär Roman Abramowitsch, der den Spitznamen "Kassenwart des Kreml" trägt. Laut der Sanktionsbegründung der EU habe er enge Verbindungen zu Russlands Präsident Wladimir Putin. Firmen der Evraz-Gruppe haben direkt oder indirekt russische Waffenhersteller beliefert, wie aus öffentlich gemachten Verträgen hervorgeht. Evraz wies dies zurück.
Die NSH-Geschäftsführung erklärte, man habe sich immer an die Sanktionsbestimmungen der EU gehalten. Tatsächlich hat die EU nur Einzelpersonen sanktioniert, nicht aber russische Konzerne. Im EU-Ratsbeschluss legten die Mitgliedsstaaten jedoch schon 2014 fest, den sanktionierten "Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen". Dies dürfte zumindest eine rechtliche Grauzone darstellen.
Eine weitere NSH-Tochter, die Rasoma Werkzeugmaschinen GmbH im sächsischen Döbeln, hat nach Medien-Informationen ebenfalls Produkte an das Evraz-Joint-Venture Allegro geliefert. Ebenso führte die zur Firmengruppe gehörende Hegenscheidt-MFD GmbH & Co. KG aus Erkelenz laut den Exportdokumenten ihre Geschäfte mit Unternehmen in Russland nach Beginn des Angriffskriegs fort. Die meisten Lieferungen gingen an die russische Tochter NSH Russ LLC und die russische Firma Trading House Avantage LLC – beide haben denselben Geschäftsführer. Auf Anfrage hieß es, NSH Russ LLC habe "sämtliche wirtschaftlichen Aktivitäten eingestellt, die Firma besteht heute lediglich noch als juristische Person, ohne Mitarbeiter und ohne jede aktive Funktion". Nach Medien-Informationen gab es zuletzt aber im März 2023 noch eine Lieferung an NSH Russ LLC.
Hinzu kommt, dass Hegenscheidt-MFD mindestens neun CNC-Maschinen über Trading House nach Russland geliefert hat, wie die Dokumente zeigen. "Zu nicht militärischen Zwecken", wie vermerkt wurde. Die Maschinen unterschiedlichen Typs dienen zur Bearbeitung von Radsätzen. Das Besondere an CNC-Maschinen ist, dass sie sehr leistungsfähig sind und hochpräzise arbeiten. Meist sind nur ein, zwei Knopfdrücke notwendig, um wichtige Bauteile zu fertigen oder zu reparieren. Sie werden in vielen Branchen benötigt, unter anderem in der Luft- und Raumfahrtindustrie, bei der metallverarbeitenden Industrie – und auch in der Rüstungsindustrie. "Diese Maschinen sind universell einsetzbar, aber in Russland kommen sie vorwiegend in der Rüstungsindustrie zum Einsatz", sagt Olena Yurchenko, Senior-Analystin beim Economic Security Council der Ukraine.
Die Einsatzgebiete von Waffenherstellern sind enorm, erklärt sie: Mit solchen Maschinen ließen sich Raketen- und Hubschrauberbauteile, Kupplungen und Getriebe, aber auch der Rumpf eines U‑Boots herstellen. In den vergangenen Monaten hat der Kreml die Rüstungsindustrie auf ihr Maximum hochgefahren. Rund um die Uhr wird produziert, die Waffenhersteller fahren unter Volllast. Ohne eine Vielzahl an CNC-Maschinen ist das unmöglich.
"Russland ist entscheidend auf den Import von CNC-Maschinen und deren Ersatzteile angewiesen", sagt Yurchenko. Nur etwa 30 Prozent der Maschinen stelle Russland selbst her, allerdings vorwiegend mit importieren Bauteilen. "In der Praxis werden lediglich chinesische Maschinen mit russischen Etiketten versehen." Die Abhängigkeit von Ersatzteilen liege der Expertin zufolge sogar zwischen 80 und 90 Prozent. Erhält Russland keine Maschinen mehr aus dem Westen, könnten Lieferungen aus China dies zwar substituieren. Doch die Qualität chinesischer CNC-Maschinen reiche derzeit nicht an die deutscher Maschinen heran, so Yurchenko.
Ob auch Maschinen der NSH-Gruppe über Umwege an Russlands Rüstungsindustrie geliefert wurden, lässt sich anhand der Dokumente nicht belegen. "Es gilt aber zu bedenken, dass etwa 80 Prozent aller CNC-Maschinen in Russland für den Bau von Waffen oder Waffenbauteilen eingesetzt werden", erklärt Expertin Yurchenko.
Die NSH-Gruppe rechtfertigt die Lieferungen damit, dass "lediglich noch laufende Projekte teilweise zu Ende geführt" wurden, soweit dies sanktionsrechtlich zulässig gewesen sei. Neue Verträge habe man nicht abgeschlossen. "Es handelte sich ausschließlich um rein zivile Projekte", betont die Konzernspitze. Gleichzeitig räumt NSH aber auch ein, man habe "keinen Einfluss und auch keinerlei Kenntnis", sollten die russischen Kunden die Maschinen am Ende doch nicht für zivile Zwecke genutzt oder sie weiterverkauft haben.