Gestern, 53 Jahre nach der Bandauflösung, 43 nach John Lennons Ermordung, 22 nach George Harrisons Tod erschien nun um 15 Uhr mitteleuropäischer Zeit "Now And Then", laut Paul McCartney "probably the last Beatles-Song." Und der haut einen schon von den Socken. "One, two ...", zählt McCartney an, spielt das von "Imagine" her vertraute halbtrunkene Lennon-Piano und Lennons Stimme klingt glasklar, als hätte er das alles gestern erst eingesungen.
Zärtlich-traurig singt er seine Worte über Trennung, Vermissen, Neubeginn. Ringos schleppender Beat setzt ein, der Refrain hat Hitqualitäten. Sobald die Streicher einsetzen, bekommt der Song ein psychedelisches Flair. Gegen Ende der gut vier Minuten verstärkt sich diese "Sergeant Pepper"-Stimmung durch die Beatles-typischen Backgroundgesänge.
Irgendwo zwischen "A Day In The Life" und "Dear Prudence" hätte dieses Lied zu Wirkzeiten der Band stehen können. Ein Werk der Liebe. Beatlissimo! Prophezeiung: Nächste Woche Nummer Eins!
Die eher müden post-Beatles-Lennon-Aufarbeitungen "Free As A Bird" und "Real Love" von 1995 und 1996, die Jeff Lynne viel zu sehr nach seinem Electric Light Orchestra hatte klingen lassen, erscheinen neben "Now And Then" jedenfalls wie Glasscherben neben einem Diamanten.
Mitte der Neunzigerjahre hatten die damals noch drei Beatles auch schon einmal an dem "Now And Then"-Tape gearbeitet. Bei jedem Versuch, das Demo zu einem Song hochzujazzen, kam, so erklärt Paul McCartney in einem Video, das auf Youtube zu sehen ist, "das Piano durch und bewölkte das Bild". Am Ende gaben sie auf, verschoben den Song. "2001 verloren wir dann George", sagt McCartney, "und das nahm uns den Wind aus den Segeln."
Die bei Peter Jacksons Dokumentarfilm "Get Back" (über die Sessions, aus denen das Album "Let It Be" wurde) verwendete De-Mixing-Technologie ermöglichte dann, bei Lennons Tape Stimme und Piano voneinander zu lösen und dem dumpfen Gesang die nun hörbare Brillanz zu verleihen. "In etwa zwei Sekunden war da nur noch Johns Stimme – und kristallklar", begeisterte sich Giles Martin, der Produzent, der für "Now And Then" die Streicher arrangierte. Der Neuversuch 2022 funktionierte.
Er hätte gern John um Erlaubnis gefragt, sagt Paul McCartney in dem Making-of-Filmchen, ist sich aber sicher, dass die Antwort "Yeah!" gewesen wäre. Dass es sich um einen echten Beatles-Song handelt, legitimiert er damit, dass alle vier Beatles darauf zu hören sind. George Harrisons Gitarrenarbeit von 1995 wurde verwendet und McCartney, der mehrere Instrumente spielt, schrieb das cremige Slidegitarrensolo des Songs im Harrison-Stil – "ein Tribut an George."
Außerdem war das Demoband, das Yoko Ono 1994 freigegeben hatte, natürlich mit "Für Paul" adressiert gewesen. So sind zum ersten Mal seit 1969 in einem Jahr großartige Songs sowohl der Beatles als auch der einstigen Hauptkonkurrenten Rolling Stones erschienen. "Now And Then" versus "Sweet Sounds of Heaven". Den Gewinner im Wettstreit ermittele jeder für sich.
Wirklich weg waren die Beatles ja nie – zumindest was die Charts und Plattenveröffentlichungen betrifft. Die "Rotes Album 1962 – 1966″ und "Blaues Album 1967 - 1970″ genannten Einführungen ins Werk der Band etwa hatten bald nach ihrer Veröffentlichung 1973 schon die Popularität ihrer regulären Studioalben. 1977 erschien im April ein Konzertalbum von magerer Soundqualität, das Adrian Barber, Bühnenmanager des Hamburger Star-Club beim letzten Hamburg-Engagement der Beatles mit einem tragbaren Tonbandgerät aufgenommen hatte.
Bei diesem "The Beatles Live! At the Star-Club in Hamburg, Germany 1962″ saß schon Ringo am Schlagzeug. John, Paul, George und Ringo arbeiten sich durch ihren Rock‘n‘Roll-Backkatalog, klammerten ihre bereits erschienene erste Parlophone-Single "Love Me Do" (B-Seite "P.S. I Love You") aus - wohl aus rechtlichen Gründen. Deutlich besser war der Sound beim nur einen Monat später erschienenen "The Beatles At The Hollywood Bowl" mit Konzertaufnahmen aus Los Angeles 1964/65. Beatlemania! Die Fans kreischen wie startende Düsenjets.
"Rock‘n‘Roll Music" versammelte 1976 auf zwei Schallplatten alle rock‘n‘rolligen und rockigen Tracks der Beatles, "Love Songs" von 1977 eine Auswahl ihrer besten Balladen, 1979 erschienen "Rarities" von nur in den USA veröffentlichten Songs, ein Jahr später in Amerika eine entsprechende Kollektion nie dort offiziell veröffentlichter Lieder. Die Single "Beatles Movie Medley", in der Songs aus Beatlesfilmen verkettet wurden, stieg 1982 in den USA auf Platz 12, in Großbritannien bis auf Platz 10.
Währenddessen pflegten auch die Ex-Beatles ihr Erbe. George Harrison besang die Jahre in der Band in Singles wie "All Those Years Ago" (1981) und "When We Was Fab" (1987), Paul McCartney mit dem "Yesterday"-artigen "Here Today" (1982) und "My Brave Face" (1989), das an den Sound der Pilzkopfzeit der Beatles erinnerte. 2003 gedachte Ringo Starr mit "Never Without You" des 2001 verstorbenen George Harrison.
Mit den Archivaufnahmen der drei 1995 und 1996 erschienenen "Anthology"-Doppeldiscs standen die Beatles in den USA dreimal auf Platz 1, in Deutschland schaffte das immerhin das erste Paket. Neben alternativen Takes bekannter Songs fanden sich auch bislang unveröffentlichte Nummern, darunter das treibende "Leave My Kitten Alone" (1964), die von der Band Badfinger bekannte Ermunterungs-Popwalze "Come And Get It" (1968) und das sanfte Buddy-Holly-Cover "Mailman, Bring Me No More Blues" (1969).
1994 und 2013 erschienen zwei "Beatles Live At The BBC"-Doppeldiscs mit Aufnahmen, die für den britischen Rundfunk eingespielt wurden – beides Top-Ten-Erfolge in vielen Ländern. Das Album "1″ von 2000, das alle Nummer-Eins-Hits der Band enthielt, stieg rund um den Globus auf Platz 1 – in Deutschland blieb es neun Wochen lang auf der Pole Position.
Weitere Highlights: 2003 "Let It Be … Naked" – das "Let It Be"-Album in einer Annäherung an die ursprünglich beabsichtigte Version, bevor Phil Spector die Aufnahmen mit Pomp und Doppelpomp versah; 2006 "Love" – ein Beatles-Remix-Album von Beatles-Produzent George Martin und seinem Sohn und Nachfolger Giles für eine Show des Cirque du Soleil in Las Vegas; 2016 kam zu Ron Howards Beatles-Live Kinodoku "Eight Days A Week" eine erweiterte "Hollywood Bowl"-Version - erstmals auf CD.
Und von 2017 bis 2022 folgten die Vinyl- oder CD-Jubiläumsboxen zu – in der Reihenfolge – "Sergeant Pepper‘s Lonely Hearts Club Band" (1967/2017), "The Beatles/White Album" (1968/2018), "Abbey Road" (1969/2019), "Let It Be" (1970/2021) und "Revolver" (1966/2022).
Und jetzt als "allerletzter Song" "Now And Then", das auf jeden Fall von seiner Schönheit und Pracht her das Beatles-Zertifikat verdient hat. "Now And Then", von dem es auch eine streng limitierte Singleversion gibt, und das auf allen Streamingportalen abruf- und downloadbar ist, bildet den neuen Abschluss des neuen, erstmals seit 1973 erweiterten "Blauen Albums".
Allerletzter Song der Beatles war damals eigentlich McCartneys "The End" gewesen, der Kehraus des 1969 als letztes aufgenommenen Albums "Abbey Road". Dessen letzte Zeile war "And in the end, the love you take is equal to the love you make" gewesen. Und traumhafter hätte es eigentlich nicht enden können.
Die Geschichte hat da einen Strich durch die Rechnung der Vier gemacht. Aus dem zeitweilig verworfenen Werk "Get Back" wurde 1970 doch noch das Album "Let It Be". 2023 nun lautet die letzte Zeile des allerletzten Songs: "Ich vermisse dich/euch. Und immer mal wieder wünsche ich, dass du/ihr zu mir zurückkehrt."
Worte, die Lennons Trauer um seinen "brother in music - Paul" respektive die Beatles ausdrücken. Quasi eine postume Liebeserklärung. Kann jeder Beatles-Fan gelten lassen, manchem wird es Tränen in die Augen treiben. "All you need", das weiß man schließlich, "is love".