Den Palästinensern rief Erdogan zu: "In meinem Namen und im Namen meines Volkes salutiere ich vor der Entschlossenheit der Menschen in Gaza im Angesicht der Bombardements der Unterdrücker." Die Türkei werde der Welt beweisen, dass "Israel ein Kriegsverbrecher" sei. Israel könne "seine Grausamkeiten nur begehen, weil es die Unterstützung des Westens hat". Die Antwort aus Israel ließ nicht auf sich warten: Am Samstagabend rief das israelische Außenministerium als Reaktion auf Erdogans "schwerwiegende Äußerungen" alle seine Diplomaten aus der Türkei zurück. Israel werde eine Neubewertung der Beziehungen zur Türkei vornehmen, schrieb Außenminister Eli Cohen am Samstag auf der Plattform X.
Veranstalter des "Büyük Filistin Mitingi", des "Großen Palästina-Treffens", war Erdogans islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Erdogan selbst hatte über die sozialen Medien die Nation zur Teilnahme an der Veranstaltung aufgerufen. Über die Zahl der Menschen, die sich zu der Massenkundgebung auf dem Flughafengelände versammelt hatten, gab es zunächst keine zuverlässigen Angaben. Es dürften aber Zehntausende gewesen sein. Regierungsnahe türkische Medien wie die Zeitung "Hürriyet" schrieben sogar von "Hunderttausenden".
Begrüßt wurden Erdogan und seine Frau Emine von einem Meer aus türkischen und palästinensischen Fahnen. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer trugen Stirnbänder mit Aufschriften wie "Wir alle sind Palästinenser", "Beendet den Völkermord" und "Wir sind die Stimme der Kinder Palästinas". Die Flaggen der Türkei und Palästinas fanden sich als Motive auch auf dem Seidenschal wieder, den Erdogan bei seinem Auftritt trug.
Einer der Redner bei der Massenkundgebung war Yusuf Islam, der zum Islam konvertierte frühere britische Folksänger Cat Stevens (75). Er rief Israel dazu auf, das Bombardement "unschuldiger Familien, ihrer Wohnungen und vor allem der kleinen Kinder" zu beenden. Kritik an den Massakern der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung, mit denen am 7. Oktober der Konflikt neu aufbrach, äußerte er nicht.
Zu den Ehrengästen gehörten die Chefs der Splitterparteien, die nach den Wahlen im Mai mit Erdogans AKP eine Koalition bildeten. Devlet Bahceli war als Vorsitzender der ultranationalistischen MHP zu der Versammlung gekommen, außerdem Fatih Erbakan von der islamisch-fundamentalistischen Neuen Wohlfahrtspartei (YRP), Mustafa Destici von der rechtsextremen BBP und Zekeriya Yapicioglu, der Vorsitzende der radikalislamischen Hüda Par, die aus der türkisch-kurdischen Kampforganisation Hizbullah hervorging.
Kurz vor der Veranstaltung hatte Erdogan am Samstag an Israel appelliert, seine "ständig zunehmenden Bombardierungen in Gaza" einzustellen. "Israel muss diesen Wahnsinn beenden", schrieb Erdogan auf der Plattform X, vormals Twitter.
Der Islamist Erdogan hat schon in der Vergangenheit aus seiner Unterstützung für die Palästinenser nie einen Hehl gemacht. Er ist einer der schärfsten Kritiker Israels und beschuldigte das Land oft des "Staatsterrorismus". Das führte 2010 zum Bruch. Beide Länder zogen ihre Botschafter ab. Erst 2022 verständigte man sich wieder auf volle diplomatische Beziehungen. Die Annäherung war Teil der Bemühungen Erdogans, die wachsende politische und wirtschaftliche Isolation der Türkei zu überwinden.
Aber der Terrorangriff der Hamas auf Israel hat Erdogan in eine schwierige Lage gebracht. "Die Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Befreiungsbewegung, die für ihre Heimat kämpft", erklärte Erdogan am vergangenen Mittwoch vor der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei AKP. Der türkische Präsident sagte einen geplanten Besuch in Israel wegen des "inhumanen Krieges Israels gegen die Hamas" ab.
Erdogan hat führenden Figuren der Hamas in den vergangenen Jahren türkische Pässe ausstellen lassen und beherbergt sie in der Türkei. Deshalb stehen nun die eben erst reparierten Beziehungen zu Israel vor einer schweren Bewährungsprobe. Anfangs hatte sich Erdogan um gemäßigte Worte zu dem Konflikt bemüht. Aber es wird für den türkischen Staatschef immer schwieriger, die Balance zu halten. Der innenpolitische Druck wächst, das zeigte auch die Massenkundgebung am Samstag. Erdogan kann die antiisraelische Stimmung im Land, die er selbst immer wieder geschürt hat, nicht ignorieren. Im kommenden Frühjahr finden wichtige Kommunalwahlen statt. Kaum ein Tag vergeht mehr ohne israelkritische und antisemitische Demonstrationen in türkischen Städten. Im Istanbuler Stadtteil Beyazit brachte ein Buchhändler an seinem Laden ein Schild mit der Aufschrift "Kein Zutritt für Juden" an.
Unterdessen zerschlägt sich offenbar Erdogans Hoffnung, sich als Vermittler zur Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln ins Gespräch zu bringen. Bei den bisherigen Freilassungen von insgesamt vier Geiseln scheint die Türkei keine Rolle gespielt zu haben. Jordanien und Katar agierten offenbar im Hintergrund als Vermittler. Das Verhältnis Erdogans zu Israel ist überdies inzwischen bereits wieder so zerrüttet, dass die Türkei auch als Mittler bei der Beilegung des Konflikts wohl nicht mehr infrage kommt.