Das Grauen zeigt sich in zahlreichen Videos mit verstörendem Inhalt, die in sozialen Medien kursieren. Tausende von Raketen wurden seit Samstag auf Israel abgefeuert. Viele beschreiben den Zustand eines Traumas und der Lähmung nach dem Massaker im Grenzgebiet als "Israels 9/11" - vergleichbar mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme in New York. Als besonders symbolisch gilt, dass der Großangriff der Hamas, die von EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestuft wird, 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg geschah. Auch damals versagten Geheimdienst und politische Führung, als sie vom Angriff arabischer Staaten unter Führung Ägyptens und Syrien völlig überrascht wurden.
Die Hamas-Anschlagsserie im Grenzbereich sowie die Verschleppungen israelischer Bürger haben bei Hunderten von Familien schweres Leid verursacht. Eine verzweifelte Mutter, deren Kind vermisst wird, schrie am Sonntag einen israelischen Abgeordneten in äußerster Wut an: "Wo ist dieses Land? Wann werdet ihr endlich aufwachen?"
Auch Adva Adar weinte bitterlich, als sie von der Entführung ihrer 85-jährigen Großmutter in den Gazastreifen erzählte. Die alte Frau aus einer Ortschaft am Rande des Gazastreifens habe am Samstagmorgen am Telefon erzählt, sie habe draußen Schüsse und laute Rufe auf Arabisch gehört. Seitdem sei der Kontakt mit Jaffa Adar abgebrochen. Das Haus habe man später verbrannt vorgefunden. "Auf Facebook haben wir dann Videos von Hamas gesehen, wie sie mitgenommen wird", sagte die junge Frau. "Sie ist 85 Jahre alt, sie ist krank, sie hat ihre Medikamente nicht dabei. Ich bin sicher, dass sie sehr leidet." Wie konnte es passieren, dass trotz der scharfen Grenzkontrollen Dutzende militanter Palästinenser über Land, See und die Luft nach Israel vordringen und dort über Stunden Hunderte Zivilisten niedermetzeln konnten?
Zu Tode geängstigte Einwohner der Grenzorte beklagten, sie hätten teilweise über Stunden vergeblich auf Hilfe der Sicherheitskräfte gewartet. Sogar ein israelischer Panzer wurde gekapert. Ein Journalist spricht von der "größten Schande in der Geschichte der israelischen Armee". Auch 26 Soldaten und Soldatinnen sind unter den Toten.
Wer wird den Preis für dieses Versagen zahlen? "Ich bin sicher, dass es später große Debatten geben wird", sagte der israelische Militärsprecher Richard Hecht am Sonntag. "Aber jetzt konzentrieren wir uns darauf, die Kontrolle wiederzugewinnen und Leben zu retten. Wir werden darüber sprechen, wenn wir den Krieg beendet haben." Das Sicherheitskabinett um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rief am Sonntag den Kriegszustand aus. Dies erlaube "weitreichende militärische Schritte", teilte Netanjahus Büro mit. Es wurden bereits Tausende von Reservisten einberufen, die Armee begann mit der Evakuierung der israelischen Grenzorte.
Kommt nun eine Bodenoffensive im Gazastreifen? Ein Vordringen der Armee in den besonders dicht besiedelten Gazastreifen birgt neue große Risiken. Versuche, die vermutlich in unterirdischen Tunneln versteckten Geiseln zu retten, wären ein gefährliches Wagnis mit ungewissem Ausgang. Die Hamas will offenbar versuchen, Häftlinge in israelischen Gefängnissen freizupressen.
Netanjahu nannte als Ziel der Operation "Iron Swords" (Eiserne Schwerter), die Kapazitäten der Hamas und des Islamischen Dschihad für viele Jahre komplett zu zerstören. Auch die Stromleitungen in den Gazastreifen wurden gekappt, und der Export von Brennstoff und Waren in den Gazastreifen wurde gestoppt. Als Reaktion auf den tödlichen und demütigenden Großangriff bombardierte die israelische Luftwaffe in mehreren Wellen Ziele der Hamas im Gazastreifen. Dabei wurden bereits mehrere Hundert Menschen getötet. Zahlreiche Zivilisten suchten Schutz in UN-Schulen.
Es herrscht nun die Sorge, der Konflikt könnte noch größer werden, sich etwa auf den Libanon im Norden ausweiten. Die libanesische Schiitenorganisation Hisbollah feuerte am Sonntag bereits Raketen auf das israelische Grenzgebiet. Israels Armee reagierte mit Artilleriefeuer. Die Solidaritätsbekundigungen der pro-iranische Hisbollah mit der Hamas klingen zumindest so, als würden sie einen Einstieg in die Kampfhandlungen nicht ausschließen.
"Unsere Herzen, Seelen, Raketen und Gewehre sind mit euch", sagte der hochrangige Hisbollah-Beamte Haschim Safieddine am Sonntag in einem südlichen Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut. Sollte die Hisbollah wirklich einen neuen Krieg mit Israel riskieren, wären die Folgen dramatisch. Nach neuesten Schätzungen der israelischen Armee verfügt die pro-iranische Organisation über ein Arsenal von mehr als 100 000 Raketen. Die Hisbollah gilt als deutlich schlagkräftiger als die Hamas. Seit dem letzten Krieg mit Israel 2006 hat sie ihre Fähigkeiten noch massiv ausgebaut.
Auch für den bereits gebeutelten Libanon könnte ein solcher Krieg aber fatale Folgen haben. Erst im August hatte der israelische Verteidigungsminister Joav Galant bei einem Besuch an der Nordgrenze gewarnt, man werde das feindliche Nachbarland im Fall eines neuen Kriegs mit der Hisbollah-Miliz "in die Steinzeit zurückversetzen".
Der Sprecher der Hamas, Ghazi Hamad, sagte, die Gruppierung habe direkte Unterstützung für den Großangriff vom Israels Erzfeind Iran erhalten. Der Iran habe sich verpflichtet, "den palästinensischen Kämpfern bis zur Befreiung Palästinas und Jerusalems beizustehen". Auch Israel wirft dem Iran immer wieder vor, er unternehme alles, um den Konflikt mit den Palästinensern anzufachen.
Experten gehen davon aus, dass Teheran damit auch versuchen könnte, eine Annäherung Israels an Saudi-Arabien unter US-Vermittlung, die sich zuletzt abgezeichnet hatte, zum Scheitern zu bringen. Der Iran hatte die ersten Anzeichen für eine solche Vereinbarung mit großem Missmut beobachtet. Ob Teheran aber so weit gehen würde, einen regionalen Krieg zu riskieren, muss sich erst noch zeigen.
Der Nationale Sicherheitsrat hatte Israelis bereits zur erhöhten Wachsamkeit bei Reisen ins Ausland aufgerufen. Ein tödlicher Anschlag auf israelische Touristen in der ägyptischen Stadt Alexandria bestätigte dann am Sonntag die Sorgen. Auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, wies auf die Bedrohung jüdischen Lebens auch anderswo hin. "Die Gefährdung für jüdische Einrichtungen auch hier in Deutschland zeigt, dass es den Terroristen nicht allein um Israel geht, sondern dass jüdisches Leben überall von ihnen infrage gestellt wird", sagte er.