Denn das Radio ist ja – jenseits von "Last Christmas" – in seinen goldenen Momenten noch immer viel mehr als ein diffuses Grundmurmeln beim Friseur. Radio kann Kopfkino erzeugen, kann immer dort, wo Lesen und Gucken gerade keine Option sind, in Echtzeit informieren, begleiten, warnen, erklären, unterhalten und das wohlige Gefühl vermitteln, nicht allein auf der Welt zu sein. Es ist ein Einsamkeitsvertreiber, in dessen Nischen bis heute der Zauber blüht. Lange sah es so aus, als drohe das Radio zum Mauerblümchen der Medienwelt zu werden, als könne Omas Dampfradio nicht mithalten mit Spotify, Youtube und den anderen digitalen Spaßkonkurrenten. Vom Zeitgeist überholt, linear, zwangsneurotisch fröhlich, aber staubbelegt. Radio galt wahlweise als elitäre Sackgasse für Pfeife rauchende Featurefreunde oder totformatiertes Passt-schon-Medium für Menschen ohne eigenen Musikgeschmack.
Doch zuletzt geschah ein kleines Wunder: Das älteste elektronische Massenmedium der Welt erlebt eine mittelgroße Renaissance. Sender erhöhen behutsam den Wortanteil, im Netz entstehen diverse Special-Interest-Ableger, hier und da kehren Ecken und Kanten zurück. Und die Hörer goutieren das: Das Radio, "das Urmedium schlechthin" (Herbert Grönemeyer), hat einen Lauf. "Video killed the radio star"? Irrtum, Freunde. Es ist MTV, das heute bedeutungslos ist.
Hören ist die Kulturtechnik der Stunde. Die Podcastwelt blüht, verschmilzt mit dem Radio, Hörbücher boomen. Gut 450 lineare Sender gibt es heute – knapp zehnmal so viele wie 1987. Mehr als 30 Millionen Deutsche hören täglich Radio. Nicht alle hoch konzentriert, nicht alle freiwillig. Aber in 91 Prozent der Haushalte steht doch mindestens ein Radiogerät. Kein Smartphone, keine Radio-App. Ein Maschinchen, das eigens für diesen Zweck gebaut wurde: um Radio zu hören.
Das Zeitalter des Radios begann am 29. Oktober 1923 mit einer Ansage im Stil der Zeit: "Achtung, Achtung!", knarzte es aus einer Dachkammer der Schallplattenfirma Vox am Potsdamer Platz in Berlin auf Welle 400 über den Äther: "Wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlostelefonischem Wege beginnt", schnarrte ein Sprecher. Und – ganz wichtig: "Die Benutzung ist genehmigungspflichtig." Es folgte das "Andantino" für Cello von Fritz Kreisler.
Der kurze Ausschnitt war kein Livemitschnitt, das war technisch noch unmöglich. Er wurde später auf Schellack nachproduziert. Aber es war die erste offizielle kommerzielle Radiosendung in Deutschland. Bloß: Die "Funk-Stunde Berlin" sendete ins Nichts. Stell dir vor, es ist Radio – und niemand hört zu. Gerade einmal 1580 Radioteilnehmer gab es am 1. Januar 1924 in ganz Deutschland. Doch schon 1925 waren es eine Million. Mitten in die Hyperinflation hinein, als ein Brot 7,5 Milliarden Reichsmark kostete, etablierte sich da ein Medium sehr schnell, dass den Mächtigen in der fragilen Weimarer Demokratie sofort suspekt war. Jeder soll öffentlich sagen dürfen, was er möchte? Frei Schnauze? Nicht doch! "Zur Wahrung von Reichsinteressen" entschied man: Bitte nur Unterhaltung, keine Politik.
Musik und Stimmen unsichtbar durch die Luft – es ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, welches Wunder das Radio darstellte. Albert Einstein hoffte, das Radio werde "der Menschen Tagewerk erleichtern" und "die Völker aus schläfriger Stumpfheit erwecken". Bertolt Brecht träumte von einem Austausch zwischen Sender und Empfänger, einem Rückkanal für aktive Hörer quasi zur demokratischen Teilhabe – und nahm damit soziale Medien vorweg. Radiopionier Hans Bredow – der auch den Begriff "Rundfunk" prägte – sprach von einem "befreienden Wunder". Schnulzensänger Max Kuttner schmetterte: "Die schöne Adrienne"
Doch dann, als sich die Wolken über Deutschland politisch verdüsterten, zeigte sich auch schnell die manipulative Macht des Mediums. Joseph Goebbels bellte schon kurz nach Adolf Hitlers sogenannter Machtergreifung 1933: "Der Rundfunk gehört uns." Das Radio sei "notwendig für die "geistige Mobilmachung". Der "Volksempfänger VE 301" (in Anspielung an den 30. Januar 1933) wurde zum ideologischen Massenvergiftungsgerät. "Goebbels Schnauze" als Kitt einer faschistischen Gesellschaft. Thomas Mann redete seinen Landsleuten per Langwelle aus dem Exil ins Gewissen ("Deutsche Hörer!"). Und während draußen 16‑jährige Hitlerjungen im "Volkssturm" verreckten, sang Lale Andersen "Lili Marleen". Bis der letzte intakt gebliebene Reichssender Flensburg im Mai 1945 die Kapitulation verkündete.
Deutschland in Trümmern. Die Alliierten schickten bald eigene Radioprogramme in die zerbombten Städte, darunter den Rias (Rundfunk im amerikanischen Sektor), der als "freie Stimme der freien Welt" zur Blaupause für viele Nachfolger wird. Im Westen entsteht ein föderales System – die spätere Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten in Deutschland (ARD). Millionen kleben an den Geräten, als Reporter Herbert Zimmermann am 4. Juli 1954 den WM‑Sieg aus dem Berner Wankdorf-Stadion meldet.
Das Radio findet seine Rolle als Soundtrack von Generationen, als Grundrauschen der jungen Republiken in Ost und West. "Zu den glücklichsten Minuten, die ich kenne, gehört die Minute, wenn ich eine Gesellschaft verlassen habe", lässt Max Frisch 1957 seinen "Homo Faber" sagen, "wenn ich in meinem Wagen sitze, die Türe zuschlage und das Schlüsselchen stecke, Radio andrehe." Und es gibt sie ja auch heute noch vereinzelt: die Radiomenschen, die man nachts bei Nieselregen auf der Autobahn zwischen Borsten-Hohenraden und Halstenbeck-Krupunder als virtuelle Beifahrer aushält. Die nicht albern herumenthusiasmieren, sondern mit Liebe und Expertise im Ozean des Pop nach Perlen tauchen.
Peter Urban (76) ist so einer, NDR-Radiolegende und langjähriger Kommentator des Eurovision Song Contest, gesegnet mit einer Stimme, die sich anhört, wie warmer Kakao schmeckt. "Ich hörte damals BFBS, den Sender der britischen Armee", erzählt er. "Die übertrugen BBC-Sendungen wie den ‚Saturday Club‘. Ich hörte auch John Peel auf Radio London, dem Piratensender auf Mittelwelle, außerdem deutsche Sender wie Radio Bremen und NDR 2 mit Klaus Wellershaus. Ich hatte einen kleinen Empfänger ständig im Ohr, sogar beim Essen. Bis meine Eltern das merkten, trotz meiner längeren Haare." Urban moderierte ab 1974 im NDR eine Sendung mit dem sachgerechten, aber trockenen Titel "Musik für junge Leute". "Wir hatten alle Freiheiten. Es war das Paradies." Radiomoderatoren erfüllten damals für die Jugend dieselbe Funktion wie Podcaster und Youtuber heute: loyal geliebte Stars ihrer Bubble, die die Abgrenzung zum Elternhaus erleichterten.
Als gemäßigte Radiorebellen machten sich dann später auch Thomas Gottschalk und Günther Jauch unentbehrlich, während Privatradios wie Pilze aus dem Boden schossen und sich nicht wenige Adoleszenten in Désirée Nosbusch von Radio Luxemburg verknallten, ohne sie ein einziges Mal gesehen zu haben. In der DDR wurde DT64 zum Kultradio, zu einer Oase der fröhlichen Unbotmäßigkeit. Tausende demonstrierten nach der Wende gegen sein Ende. Doch der geliebte Herzblutsender ging 1993 in MDR Sputnik auf.
Die ARD feiert das Radio zum Jubiläum als "moderne Stammestrommel". Das ist leicht pathetisch, aber nicht falsch. In einem TV‑Beitrag zum Geburtstag freilich zeigt sich unfreiwillig, wie ähnlich sich doch alle ARD-Popwellen anhören, wie geklont die Moderation, wie ähnlich das künstliche Kichern. Noch immer geht es nicht primär darum, Einschaltgründe zu schaffen, sondern Ausschaltgründe zu eliminieren. Irritation ist böse. Oder wie die Senderchefin Mira Seidel von der SWR-Jugendwelle DASDING in einem Interview mit dem Mediendienst DWDL ohne Arg sagte: "Wir müssen gefälliger werden, die Spitzen und Kanten aus der Musik herausnehmen, eine höhere Durchhörbarkeit erreichen."
Ein ziemlich trauriger Satz, der prompt Proteste auslöste. "Warum klingen die Jugendwellen – von der Musik über die Moderationen bis zu den Jingles – komplett gleich?", wundern sich etwa Melanie Gollin und Martin Hommel, Musikjournalisten und Initiatoren der Aktion "Wo ist hier der Krach?". "Warum ist alles entweder total artig oder irre überdreht?" Beide kämpfen für mehr Vielfalt in diesem "knattergeilen Medium", das weiterhin viel Spott ertragen muss ("Ich habe zwei Tage Radio gehört und kenne jetzt alle fünf Lieder"). Auch Urban vermisst schmerzlich die Fähigkeit des Radios, Hörer zu überraschen: "Manche Radiosender sagen: ‚Wir machen keine Hits, wir spielen welche‘, sagte er. "Wie bitte? Das finde ich katastrophal. Diese Philosophie ist einfach falsch. Warum hören wir immer dieselben drei Hits von U2?"
Andererseits liefert das Radio abseits des Mainstreams auch ein Füllhorn von Qualitätsinhalten – im Deutschlandfunk, in den Infoprogrammen, den Kultursendern. NDR-Intendant Joachim Knuth, langjähriger Hörfunkchef, sieht ein stabiles Comeback des Hörens. "Hören ist das neue Lesen", sagte er. "Wir sind immer dann stark, wenn das Auge gebunden ist. Und es ist häufig gebunden, nicht nur beim Autofahren. Wir sind als Medium heute stärker, als wir es noch vor zehn Jahren dachten." Er sehe, sagte Knuth, "eine Renaissance des frei gesprochenen Wortes im Radio. Es hat eine besondere Grandezza."
In einer Zeit aber, in der niemand das Radio braucht, um Musik zu hören, weil Musik in der Luft liegt wie Sauerstoff für die Seele, muss sich der Hörfunk – wieder einmal – neu erfinden. Weiterhin gibt es kein Medium, das so schnell so viele Menschen gleichzeitig erreicht. Gewiss wird künstliche Intelligenz auch das Radio verwirbeln, wird vollautomatische Moderatoren generieren bis hin zu einem unsterblichen Peter-Urban-Klon. Spotify hat bereits eine künstliche Sprachintelligenz getestet, die einen individuellen "Moderator" für jeden Spotify-Hörer simuliert. Also muss Radio sich auf seine alten Stärken besinnen: die Livereportage, die Instant-Information. Und vor allem: die tiefe Liebe zum gesprochenen Wort. Ein Kulturgut, das niemals sterben wird.