Umso schwerwiegender wirkt nun die Stellungnahme von Außenminister Wang Yi vom Sonntag, in der er ganz direkt Israel für die "kollektive Bestrafung" der Zivilbevölkerung im Gazastreifen anprangert. Die Maßnahmen Israels würden zudem über eine reine "Selbstverteidigung" hinausgehen. Mit seiner Haltung hat China im Westen erneut diplomatisches Porzellan zerschlagen. Tuvia Gering, einer der führenden China-Experten Israels, bezeichnete etwa die jüngsten Aussagen von Außenminister Wang als "weiteren Messerstich in den Rücken Israels".
Genau wie beim Ukraine-Krieg bringt auch der jetzige Konflikt im Nahen Osten das Reich der Mitte in ein strategisches Dilemma. Denn Pekings Außenpolitik ist von Eigeninteressen getrieben, die überaus widersprüchlich sind: Einerseits ist Peking mit einem jährlichen Handelsvolumen von nahezu 25 Milliarden Dollar mittlerweile Israels wichtigster Handelspartner, Tendenz stark steigend. Auch als Investor spielt man eine zunehmend wichtige Rolle: Zuletzt hatten etwa chinesische Staatsunternehmen in Haifa einen im September 2021 fertiggestellten Containerhafen errichtet.
Historisch gesehen hat sich die Volksrepublik hingegen seit seiner Gründung stets für die Anliegen der Palästinenser eingesetzt. Die Solidarität beruhte auf der kommunistischen Doktrin, sämtliche Befreiungsbewegungen der unterdrückten Völker im globalen Süden zu unterstützen, ganz gleich wie militant diese auftraten. Der Schulterschluss ging damals soweit, dass Mao Zedong offen die Zerstörung Israels forderte.
Von jener Radikalität ist mittlerweile nur mehr wenig übergeblieben: Parteivorsitzende Xi Jinping spricht sich mittlerweile für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, die auf den historischen Grenzen von 1967 beruht. Der Plan sieht vor, dass Palästina Ost-Jerusalem als Hauptstadt zugewiesen bekäme.
Erst in diesem Jahr hatte sich Peking so offensiv wie nie zuvor als potenzieller Vermittler ins Spiel gebracht. Denn seit man die Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran eingefädelt hatte, wird die Volksrepublik als diplomatisches Schwergewicht in der Region wahrgenommen. Dabei geht es den Chinesen nicht zuletzt darum, sich als Alternative zu den USA und ihrer westlichen Weltordnung zu präsentieren.
Doch der Ansatz Pekings legt auch offen, wie leicht es ist, sich in moralische Widersprüche zu verstricken. Während sich China nämlich nach wie vor weigert, den Terror der Hamas direkt zu kritisieren, reagierte man auf die heimischen Terroranschläge der muslimischen Uiguren der 2010er Jahre mit beispielloser Härte: Hunderttausende Anhänger der muslimischen Minderheit in der Region Xinjiang wurden ohne rechtsstaatliche Verfahren in politische Umerziehungslager gesteckt.
Vor der eigenen Bevölkerung hilft allerdings ein massiver Zensurapparat, um die eigene Scheinheiligkeit zu übertünchen. Die Staatszeitungen kritisieren bei dem Krieg in Israel vor allem die Vereinigten Staaten als Provokateur und Unruhestifter, auf den sozialen Medien werden fast ausschließlich die zivilen Opfer der israelischen Luftangriffe bebildert.
Angesichts der einseitigen Informationslage überrascht es nicht, dass auf Online-Plattformen wie Weibo wüster Antisemitismus verbreitet ist. Da werden etwa Israelis als "Nazi-Juden" verunglimpft, andere User rufen zur "Auslöschung" Israels auf. In einem besonders perfiden Posting heißt es, in Anspielung an den Holocaust: "Es gab schon einen Grund, warum Deutschland das damals getan hat".