"Sechs Tage lang haben sie gelogen, nur um Zeit zu gewinnen", sagt Nawalnys Sprecherin. Sie berichtet, dass der Kremlkritiker vor einer Woche in seiner Zelle erkrankt sei. "Ihm wurde schwindelig und er legte sich auf den Boden." Das Personal habe Nawalny dann eine Infusion angelegt. "Wir kennen den Grund nicht, aber wenn man bedenkt, dass er kein Essen bekommt, in einer Zelle ohne Belüftung sitzt und nur selten Freigang hat, klingt es nach einem Schwächeanfall wegen Hungers."
Auch an diesem Dienstag wurde Nawalny nicht zum Prozess gegen ihn zugeschaltet. Ungewöhnlich wäre es nicht, wenn Nawalny in ein anderes Lager verlegt worden wäre, sagt Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. Es sei jedoch sehr bedenklich, dass Nawalny zu den letzten Prozesstagen nicht zugeschaltet werden konnte, da dies auch im Fall einer Verlegung möglich wäre. "Es ist gut möglich, dass Nawalnys gesundheitlich schwer angeschlagen ist und die Gefängnisleitung Videoaufnahmen verhindern will", so Mangott.
Der Kreml ließ verlautbaren, man wisse angeblich nicht, wo sich Nawalny aufhalte. Man habe weder die Absicht noch die Möglichkeit, das Schicksal der Gefangenen und den Verlauf ihrer Aufenthaltsorte zu verfolgen, so Sprecher Dmitri Peskow. Der außenpolitische Sprecher der EVP-Fraktion, Michael Gahler (CDU), hält davon nichts. "Putin und sein Regime sind verantwortlich für Nawalny‘s Sicherheit und sein Wohlergehen, solange er in ihren Gefängnissen, in ihrer Gewalt ist", sagt er. "Das fehlende Lebenszeichen von Nawalny ist bestürzend und besorgniserregend." Das Europäische Parlament fordere Nawalnys sofortige und unbedingte Freilassung.
Experte Mangott zufolge demonstriere der Kreml im Fall Nawalny, dass der Staat willkürlich tun und lassen kann, was er wolle und er an Regime-Kritikern ein Exempel statuiere. "Der Fall Nawalny dient zur Abschreckung von anderen Aktivisten, aber auch andere Meinungen", beobachtet Mangott. "Wir sehen eine Demonstration staatlicher Willkür und staatlichem Hohn gegenüber den Rechten von Strafgefangenen und Kritikern."
Nawalny war wegen extremistischer Aktivitäten zu mehr als 30 Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt worden. Die Vorwürfe gegen ihn weist er vehement zurück. Für ihn sei das Urteil politisch motiviert und habe das Ziel, seine Kritik an Präsident Wladimir Putin verstummen zu lassen. Schon lange geht der Kreml mit aller Brutalität gegen Kritiker vor. Nawalnys Team hatte erst vor wenigen Tagen die Kampagne "Russland ohne Putin" gestartet, um für andere Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr zu werben.
Dass Nawalnys Verschwinden mit der bevorstehenden Wahl in Zusammenhang steht, glaubt Mangott aber nicht. Von der Opposition in Russland gehe für Putin inzwischen keine Bedrohung mehr aus. Ernstzunehmende Gegner seien längst ausgeschaltet worden, so wie Nawalny. "Der Kreml hat mit der Inhaftierung Nawalnys sein Ziel erreicht: Er kann Putin nicht mehr schaden, weil er abgeschottet und isoliert ist."
Spekulationen, wonach Nawalny in der Strafkolonie getötet werden könnte, sieht Mangott kritisch. "Würde Nawalny umkommen, würde sofort der Staat für seinen Tod verantwortlich gemacht werden", gibt er zu bedenken. Es würde laute Kritik in Russland und aus dem Ausland geben. "Der Kreml hätte durch den Tod Nawalnys nur Nachteile."